Parascha Beha‘alotcha

Bildquelle: Shavei Israel, Twitter


Von Chasan Martin Arieh Rudolph

Die zweite Chance

BM Bemidbar 8,1 – 12,16

Es gibt fromme und weniger fromme Juden, und manche betrachten sich mehr als „kulturelle Juden“ und kommen allenfalls zu Pessach oder Jom Kippur in die Gemeinde und es gibt jene, die überhaupt keine Bindung mehr an das Judentum haben, abgesehen von ihrer Herkunft.

Was halten Sie von all diesen Menschen? Vorsicht – das ist eine tückische Frage, eine Frage, die sehr leicht ungerecht sein kann!

Eines der Probleme des heutigen Judentums besteht darin, daß jede dieser Gruppen bestimmte, oft fest zementierte Meinungen zu den anderen hat. So schauen entweder die säkularen Juden auf die „Frumen“ – die frommen Juden – verächtlich herab oder umgekehrt, orthodoxe Juden halten sich für was Besseres oder behaupten, tiefreligiös zu sein und trotzdem schlagen sie ihre Frau. Wiederum andere bezeichnen ihre Gegner gerne als “Kostümjuden”, obwohl sie einfach ein bisschen mehr ihre Religiosität zeigen als andere.

Ist das verwerflich? Ich denke nicht. Oft sind solche Redereien gut geeignet, als Laschon Hara aufgefaßt zu werden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich 1992 zu meinen ersten Chasanut-Seminaren fuhr und mir entgegengehalten wurde: 

Ach ja Bamberg, das kennen wir, die nehmens mit Koscher nicht so genau

Das haben sie so nicht gesagt, der Vorwurf war viel schlimmer, aber lassen wir es einmal so stehen. Und dieser Vorwurf kam gerade von jenen, die sehr freimütig bekannten, dass sie keine Probleme darin sahen, nach einer Fleischmahlzeit gleich ihren Kaffee mit Sahne zu würzen, denn sie waren ja schließlich „geborene Juden“ und keine „nachgemachten“, so wie ich.

Nun, abgesehen davon, dass solche Leute eigentlich bemitleidenswert sind, kann man da nur mit den Schultern zucken, wenn man letztlich weiß, dass man, wenn man auch nicht perfekt ist, sich doch immerhin nicht allzuviel selbst vorwerfen kann. Sind wir nicht alle dann und wann so, dass wir auf andere herabschauen? Dass dies eine Verletzung des Gebotes ist, andere nicht zu beschämen, vergessen wir alle viel zu leicht.

Der Wochenabschnitt, Beha’alotcha, erteilt hier eine seltsame Erlaubnis. Gewisse Personen, die während des Pessachfestes rituell unrein waren, dürfen einen Monat später, im Ijar, ein zweites Pessach feiern, das Pessach Scheni. Es dauerte nur einen Tag und schloß nicht das Verbot ungesäuerten Brotes im Haus ein.

Weshalb dieses Gebot? Lasen wir nicht in der Haggadah über den Rosche, den Bösen, dass er sich, wenn er Pessach nicht feierte, sich damit aus dem Judentum praktisch ausschloß?

Pessach Scheni ist für Büßer bestimmt, die eine Übertretung des Gesetzes wiedergutmachen müssen. Der Bußfertige vollzieht zwar weniger Rituale, aber sein Feiertag hat dennoch eine besondere Bedeutung. Der Zadik. der das eigentliche Pessach feiert, hat das Böse besiegt. Der reuige Sünder kehrt hingegen aus Liebe zu G´tt zurück und wandelt das Böse in Heiliges um. Somit ist Pessach Scheni die zweite Chance, die G´tt uns allen gibt.

In diesem Wochenabschnitt lesen wir auch, daß Mosche

überaus demütig war, mehr denn jeder andere auf Erden

Mosche, die herausragende Gestalt der Torah, überwand seine Furcht und seine körperlichen Grenzen, um G´ttes Willen zu erfüllen. Er war der größte aller Propheten und zugleich der demütigste Mensch. Seiner Meinung nach hätte ein anderer es noch weiter gebracht als er, wenn er seine Talente besessen hätte.

Kehren wir zur Frage vom Anfang zurück, was halten Sie von den anderen Juden? Halten Sie sich immer noch für berechtigt, diese zu beurteilen?

In keinem der 613 Gebote heißt es: „Du sollst anderen grollen.“ Wir haben vielmehr die Aufgabe, in der Weise wie wir die Mitzwot befolgen an uns zu arbeiten und dadurch bessere Menschen zu werden, Vorbilder für andere.

Beurteilen Sie die anderen Juden? Dann verurteilen Sie. Aber wenn Sie die Mitzwot befolgen, geben Sie anderen eine zweite Chance und Sie bauen für G´tt weiter an dessen Wohnung in Ihrer höchstpersönlichen Seele.

Schabbat Schalom

https://www.talmud.de/tlmd/die-torah-eine-deutsche-uebersetzung/die-torah-Behaalotcha/