Paraschat Nasso 5785 (11. Siwan 5785 / 6.-7. Juni 2025): B’midbar (4. Mose) 4,21–7,89

Heiligkeit im Alltag: Wie wir durch Verantwortung, Hingabe und Segen unser Leben und unsere Gemeinde heiligen können

Heute befassen wir uns mit dem Wochenabschnitt Nasso aus dem 4. Buch Mose. Nasso ist einer der längsten Torahabschnitte und enthält eine beeindruckende Vielfalt an Themen: von den Aufgaben der Leviten über Reinheitsvorschriften, das Nasiräer-Gelübde bis hin zum priesterlichen Segen und den Gaben der Stammesfürsten. In dieser Fülle können wir leicht den Überblick verlieren. Doch wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir einen roten Faden, der sich durch den gesamten Abschnitt zieht: Es geht um verschiedene Wege, wie wir unser Leben und unsere Gemeinde heiligen können.

Heiligkeit – Keduscha – ist ein zentraler Begriff im Judentum. Doch was bedeutet es, heilig zu sein? Es bedeutet nicht, weltfremd oder abgehoben zu leben. Im Gegenteil: Heiligkeit im jüdischen Sinne findet mitten im Leben statt, in unserem Alltag, in unseren Beziehungen, in unserer Gemeinde.

Der Wochenabschnitt Nasso zeigt uns drei Wege auf, wie wir diese Heiligkeit in unserem Leben verwirklichen können: durch Verantwortung in der Gemeinde, durch persönliche Hingabe und durch den Segen als Brücke zwischen G´tt und Mensch. Betrachten wir zunächst den Aspekt der Verant-wortung. Am Anfang des Wochenabschnitts werden die Aufgaben der levitischen Familien Gerschon und Merari beschrieben. Jede Familie erhält spezifische Verantwort-

Lichkeiten beim Transport des Stiftszelts. Die einen tragen die Teppiche und Vorhänge, die anderen die Bretter und Säulen. Niemand trägt alles, aber jeder trägt etwas bei. Was lehrt uns das? In unserer Gemeinde hat jeder von uns besondere Fähigkeiten und damit verbundene Verantwortungen. Manche von uns sind begabt im Lehren, andere im Trösten, wieder andere im Organisieren oder im Musizieren. Eine lebendige Gemeinde braucht all diese Gaben. Wenn jeder seine Verantwortung wahrnimmt, wird die Gemeinde zu einem heiligen Ort.

Es gibt eine schöne Midrasch-Geschichte über Rabbi Akiva, der beobachtete, wie Wasser über viele Jahre hinweg einen Stein aushöhlte. Er sagte sich: „Wenn das weiche Wasser den harten Stein formen kann, dann kann die Tora, die hart wie Eisen ist, gewiss mein Herz formen, das nur aus Fleisch und Blut ist.“

So ist es auch mit unserer Verantwortung in der Gemeinde: Jeder kleine Beitrag, jede übernommene Aufgabe mag für sich genommen unbedeutend erscheinen, doch in ihrer Gesamtheit formen sie etwas Heiliges. Der zweite Weg zur Heiligung, den uns Parascha Nasso zeigt, ist die persönliche Hingabe. Dies wird besonders deutlich im Abschnitt über das Nasiräer-Gelübde. Ein Nasiräer ist jemand, der für eine bestimmte Zeit ein besonderes Gelübde ablegt: Er trinkt keinen Wein, schneidet sein Haar nicht und vermeidet jede Berührung mit Toten. Die Tora sagt über ihn: „Alle Tage seines Nasiräertums ist er dem HERRN heilig.“ (4. Mose 6:8)

Was können wir heute aus diesem scheinbar fremden Ritual lernen? Das NasiräerGelübde lehrt uns, dass es Zeiten im Leben gibt, in denen wir uns bewusst für eine intensivere spirituelle Erfahrung entscheiden können. Nicht jeder von uns wird ein Nasiräer-Gelübde ablegen, aber jeder kann Momente der besonderen Hingabe in sein Leben integrieren. Vielleicht ist es die bewusste Entscheidung, den Schabbat intensiver zu feiern. Vielleicht ist es ein regelmäßiges Torastudium oder ein besonderes soziales Engagement. Vielleicht ist es auch einfach ein täglicher Moment der Stille und des Gebets. Diese Zeiten der besonderen Hingabe heiligen nicht nur diese Momente selbst, sondern strahlen auf unser gesamtes Leben aus.

Der dritte und vielleicht bekannteste Weg zur Heiligung in unserem Wochenabschnitt ist der priesterliche Segen. „So sollt ihr die Kinder Israel segnen: Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ (4. Mose 6:23-26)

Diese Worte gehören zu den ältesten erhaltenen Texten der jüdischen Tradition. Sie wurden auf kleinen Silberrollen gefunden, die aus dem 7. Jahrhundert vor der Zeitrechnung stammen. Der Segen hat eine dreifache Struktur, die uns etwas Wichtiges lehrt: Zuerst geht es um materiellen Schutz und Wohlstand („Der HERR segne dich und behüte dich“), dann um geistige Erleuchtung und Gnade („Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig“), und schließlich um inneren und äußeren Frieden („Der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden“). Der Segen umfasst also alle Bereiche unseres Lebens – das Materielle, das Geistige und das Seelische. Bemerkenswert ist auch, dass der Segen in der Einzahl formuliert ist: „Der HERR segne dich…“ – nicht „Euch“. Obwohl er an die gesamte Gemeinde gerichtet ist, spricht er jeden Einzelnen persönlich an. Dies lehrt uns, dass jeder von uns in seiner Einzigartigkeit von G´tt gesehen und gesegnet wird. Doch der Segen ist nicht nur etwas, das wir empfangen. Er ist auch etwas, das wir weitergeben können.

An einer anderen Stelle unseres Wochenabschnitts heißt es: „Sie sollen bekennen ihre Sünde, die sie getan haben, und sollen ihre Schuld voll erstatten und dazu den fünften Teil dazutun und dem geben, an dem sie sich verschuldet haben.“ (4. Mose 5:7) Hier geht es um Wiedergutmachung und Versöhnung. Wenn wir anderen vergeben und Versöhnung suchen, wenn wir Frieden stiften und Brücken bauen, dann werden wir selbst zu einem Segen für unsere Mitmenschen. Liebe Gemeinde, der Wochenabschnitt Nasso zeigt uns, dass Heiligkeit nicht etwas Abstraktes oder Unerreichbares ist. Sie manifestiert sich in der Verantwortung, die wir in unserer Gemeinde übernehmen, in den Momenten besonderer Hingabe, die wir in unser Leben integrieren, und in dem Segen, den wir empfangen und weitergeben.

In der kommenden Woche möchte ich Sie einladen, über diese drei Wege nachzudenken: Welche besondere Verantwortung könnt ihr in unserer Gemeinde übernehmen? Welche Momente der besonderen Hingabe könnt ihr in euren Alltag integrieren? Und wie könnt Ihr den Segen, den Ihr empfangt, an andere weitergeben? Möge der Ewige uns alle segnen und behüten. Möge sein Angesicht über uns leuchten und uns gnädig sein. Möge er sein Angesicht zu uns erheben und uns Frieden geben.

Schabbat Schalom!