Parascha Ki Tissa

Moses mit den steinernen Bundestafeln, Rembrandt, 1659. Bildquelle: Wikimedia PD

2. BM Schemot 30:11-34:35

Der Abschnitt Ki Tissa schildert mit der Herstellung des goldenen Kalbes eines der einschneidendsten Ereignisse in der jüdischen Geschichte. Wir erleben hier die Sünde gegen das erste Gebot in Reinkultur. Die daran beteiligten Menschen befanden sich auf einem einzigartig hohen spirituellen Niveau. Sie hatten die Spaltung des roten Meeres, den Untergang der Ägypter und die Offenbarung G-ttes auf dem Sinai erlebt. Sie hörten G-tt zu sich sprechen:

Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe

2.Mose 20,2

Im Vergleich zur Wüstengeneration kann man uns Heutige als kleingläubig einstufen. Zudem müssen wir uns fragen, ob wir überhaupt das Recht haben, ein Urteil über diese Generation zu fällen. So weist uns ein Kommentar aus dem Talmud in die Schranken. Es heißt da:

Wollten wir uns zum Richter über die Wüstengeneration erheben, so würde hier – im Bild gesprochen – ein Esel einen Menschen beurteilen wollen. Kann aber ein Esel einen Menschen beurteilen ?

Traktat Schabbat 112

Wie kann es sein, dass ausgerechnet jene Generation unserer Vorfahren sich derart gegen G-tt vergangen hat? Das Volk lebte in der Wüste in einer Atmosphäre der Wunder, umgeben von der Wolkensäule G-ttes, Speise aus dem Himmel empfangend. Ausgerechnet in einer solchen ganz offensichtlich von G-tt begleiteten Lebenssituation erschuf sich das Volk ein goldenes Kalb zum G-tt und rief

Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat!

2. Mose 32,4

Drei Monate nach dem Exodus aus Ägypten und sechs Wochen nach der Offenbarung auf dem Berg Sinai hatten die Kinder Israels gehört:

Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft

5.Mose 5,6

… und kurz darauf zeigen ihre Finger auf das Goldene Kalb. Wenn wir uns tiefer in diesen Vorfall hineindenken, dann fällt uns eine Ungereimtheit auf. Die vor dem Goldenen Kalb Versammelten sagen nämlich: “das ist dein G-tt, Israel, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat”! Man erwartet eigentlich, dass sie in der ersten Person Plural sagen würden: “das ist unser G-tt, Israel, der uns heraus geführt hat”.

Für Raschi (1040-1105) ist diese Ungereimtheit ein Beleg dafür, dass es nicht die Kinder Israels waren, die das goldene Kalb gemacht haben. Er weist auf „Erev rav“ (2. Mose 12,38) – Angehörige fremder Völker – hin, die sich dem Volk Israel bei seinem Exodus angeschlossen und sich mit ihm vermischt hatten. Sie seien es gewesen, die Aharon unter Druck setzten, das Kalb anfertigen zu lassen. Und nach seiner Fertigstellung waren sie es, die erklärten: „Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat!“

Offensichtlich war es aber so, dass sich die Kinder Israels diesem Einfluss, den „Erev rav“ auf sie ausübte, nicht wirklich widersetzten. Das Volk war durch Mosches 40-tägige Abwesenheit mürbe und müde geworden, da ergriffen die mitwandernden Begleiter Israels die Initiative zur Herstellung des Kalbes.

Zu dieser These Raschis erklärt Rabbi Chaim Shmuelevitz (1909 – 1979) in seinem Buch „Sichot-Mussar“ (Ethische Diskurse):

Ein Mensch kann die Führung Gottes in seinem Leben erfahren, aber das wird ihn nicht prägen. Sein inneres Wesen bleibt davon unberührt. Warum ist das so? Weil der Mensch selbst keine Aktivität entwickelt hat, diese Erlebnisse anzustreben. Erev rav haben die Wunder und Führungen, die Gott den Israeliten widerfahren ließ, schlicht und einfach aus der Zuschauerperspektive wahrgenommen und sich von den Ereignissen mitnehmen lassen.
Wenn aber der Mensch mit eigener spiritueller Kraft versucht, Gottes Wege zu entdecken, dabei auf Schwierigkeiten stößt und mit Proben konfrontiert wird, dann wird sich ihm die erarbeitete Gotteserfahrung verinnerlichen und ein Teil von ihm werden.

Demgegenüber haben die Erev rav keinerlei Erprobung ihres Glaubens durchgemacht, sie haben alles ohne eigene Anstrengung „bloß mitgenommen“. Und dann trifft zu: Was man mit Leichtigkeit erreicht hat, verlässt einen auch wieder leicht – eine Erkenntnis, die auf alle Bereiche unseres Lebens zutrifft.

Man fragt sich, wie das Volk Israel dazu überredet werden konnte, das Kalb herzustellen. Rabbi Shmuelevtiz deckt ein Missverständnis zwischen Mose und den Kindern Israel auf. Mosche kündigte ihnen an, dass er für 40 Tage und Nächte auf den Berg Sinai steigen werde. Das Volk ließ diesen Zeitraum mit dem ersten Tag seiner Abwesenheit beginnen – Mosche aber begann die Tage seiner Abwesenheit erst zu zählen, nachdem er den Gipfel des Horeb erreicht hatte.

Zu diesem Missverständnis kommentiert der Talmud:

Der Satan nutzte diese Unstimmigkeit zwischen Mosche und den Kindern Israels aus, indem er ihnen einredete, Mose sei tot. Zunächst blieb das Volk standhaft und glaubte dem Versucher nicht. Doch der legte nach und zauberte ihnen eine Figur vor Augen, in der sie Mosche zu erkennen glaubten, wie er himmelwärts getragen wurde. Da war es um ihren Widerstand geschehen, und die Kinder Israels gingen davon aus, dass sie ihren bewährten Anführer nicht mehr wiedersehen würden, der ihnen Gottes Beistand und Wunder während der 40jährigen Wüstenwanderung vermittelt hatte.

Traktat Schabbat 89

In diesem personellen Vakuum liegt der Ursprung für die Sünde Israels, indem es daran ging, bei der Herstellung des Goldenen Kalbes mitzuwirken.

Schabbat Schalom!

https://www.talmud.de/tlmd/die-torah-eine-deutsche-uebersetzung/die-torah-Ki-Tissa/