Parascha Bo

Tod des Erstgeborenen des Pharao (Gemälde von Lawrence Alma-Tadema, 1872) Quelle: Wikimedia

2. BM 6:2 – 9:35

Der Wille, frei zu werden und zu bleiben

Die Kinder Israel hielten sich 430 Jahre in Ägypten auf. 210 Jahre davon waren sie in Sklaverei gefangen. Sie warteten mehr als 200 Jahre auf ihre Befreiung. Um sie für sein Volk umzusetzen, schlug G-tt die Ägypter mit zehn Plagen. Auf diese Weise sollten der Pharao und sein Volk den G-tt Israels kennenlernen, einen G-tt, der für die Freiheit und Ehre des Menschen kämpft.

Falls der Pharao eine Staatstheorie hatte, nach der er handelte, dann hieß sie: mit Gewalt und Unterdrückung zu regieren. Aber ein Volk oder eine Nation, die auf Dauer Bestand haben sollen, können nicht auf der Basis von Sklaverei und Androhung von Gewalt existieren. Die Geschichte lehrt: Tyrannen herrschen eine bestimmte Zeit, aber am Ende ist ihnen keine Zukunft verheißen. Sie haben immer mit einem Volk zu tun, das bestrebt ist, sein Sklavenjoch abzuwerfen und den Tyrannen zu beseitigen.

Oft ist der Weg für ein Volk dahin sehr lang und beschwerlich, wie im Falle der Kinder Israel. Sich auf den Weg zu machen und die Reise in die Freiheit anzutreten, das ist für Mosche ein Ereignis, das er den Israeliten für alle Generationen ins Gedächtnis schreiben will. Es soll ihnen im kollektiven Bewusstsein unvergesslich sein. Aus diesem Grund kommt er in unserem Abschnitt nicht nur einmal auf die Einrichtung des Pessachfestes zu sprechen. Wenn die Israeliten in ihr Land kommen und die Kinder nach der Herkunft des Festes fragen, soll man ihnen antworten: Es geht auf G-ttes Aktion zurück, als er mit starker Hand die Erstgeborenen der Ägypter schlug, aber an den Häusern der Israeliten vorbei schritt und ihre Kinder verschonte. Ein zweites Mal hält er das Volk dazu an, den Kindern das Pessachfest in seiner Bedeutung von sich aus nahe zu bringen, ohne erst auf ihre Fragen zu warten.

Der Abschnitt bringt uns eindringlich zu Gehör: Als die Israeliten an der Schwelle zur Freiheit stehen, brauchen sie ein Volk von Erziehern. Die Tora unterrichtet uns hier, dass man Freiheit nicht durch militärische Stärke, Krieg, Politik oder Gericht erreicht und erhält, sondern nur durch den Willen, frei zu werden und zu bleiben.

Um ein Land zu verteidigen, braucht man militärische Streitkräfte. Aber um eine Gesellschaft in ihrer freiheitlichen Grundordnung zu erhalten und fortzuführen, braucht man Schulen und das Zusammenspiel von pädagogischen Instrumenten. Sie müssen darauf abgestimmt sein, die Motivation zum Erhalt der Freiheit von Generation zu Generation immer wieder neu zu beleben. Dabei muss das Gefühl der Zusammengehörigkeit gefestigt werden, damit einer für den anderen mitzufühlen lernt und bereit ist, für ihn einzustehen und seine Freiheit zu verteidigen.

Mosche selbst hat diesen Anspruch als erste große Führungspersönlichkeit des Volkes Israel erfüllt. Seine seriöse Denkweise im Dienst an der Freiheit für sein Volk hat ihn zu einer herausragenden Persönlichkeit gemacht.

Die Freiheit des jüdischen Volkes ruht auf drei Säulen: der Elternschaft, der Erinnerung und der Erziehung. Eltern müssen ihren Kindern vom Weg in die Freiheit erzählen. Das soll jedes Jahr bei der Pessachfeier geschehen. Beim Verzehren der Mazza, des Brotes des Elends, und des bitteren Krauts wird an die Schwere der Sklaverei erinnert. Diese „Kostprobe“ soll jede neue junge Generation davor bewahren, die errungene Freiheit leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Die Festungen der jüdischen Nation sind also ihre Eltern, Lehrer und Schulen, die im Dienst der Erziehung zur Freiheit stehen.

Auch nach der Zerstörung des zweiten Tempels geriet die jüdische Geschichte um den Kampf der Freiheit nicht in Vergessenheit. Es war das Verdienst Rabbi Jehoschua ben Gamlas, dass die Tora im Volk lebendig blieb. Er setzte durch, dass Kinder im Alter zwischen sechs und sieben Jahren Tora lernen sollten.

Der Jerusalemer Talmud erzählt uns (Hagiga 1), dass Rabbi Jehuda Hanassi Rabbi Chiya und Rabbi Assi ins Land Israel sandte. Sie sollten sich ein Bild davon machen, wie es dort um das Lernen bestellt sei. Als sie ankamen, bemerkten sie: Es gab es keine Lehrer, Erzieher und Schulen. Daraufhin baten sie um ein Gespräch mit den Verantwortlichen der Stadt.

Man brachte ihnen zwei Aufseher. Die Rabbiner erklärten: „Ihr seid keine Wächter, sondern Zerstörer der Stadt.“ Die Einwohner fragten: „Und wer sind dann die wirklichen Aufseher der Stadt?“ Die Rabbiner antworteten: „Es sind die Bücher und die Lehrer!“

Das ist die Kraft des jüdischen Volkes, die Erziehung zum Wissen und Gedenken schon in der Kindheit zu vermitteln. Denn ein freier Mensch ist, wer ungestört und unter Anleitung Tora lernen kann.
Das ist ein Prinzip, das in den Herzen der Eltern und des Volkes tief eingraviert sein muss.

Diese Idee versucht Mosche in den Ereignissen unseres Abschnitts dem Volk nahe zu bringen. Freiheit ist mehr als eine Minute politischen Erfolgs. Sie erfordert von uns Kraft und Beständigkeit in der Erziehung unserer Kinder. Hier ist unsere nachhaltige Investition von Phantasie und Durchhaltevermögen gefragt.

Bei der Pessachfeier erinnern wir uns an die Bitternis der Sklaverei unserer Vorfahren und lassen uns in der Gegenwart warnen, unsere Freiheit nicht zu verspielen.

Dieses große Erbe verdanken wir maßgeblich Mose. Heute nennt ihn das Volk Israel nicht einen Helden oder Propheten, sondern seinen Lehrer. Seinen enthusiastischen Lehrer, dem viele mit gleicher Motivation und Überzeugungskraft folgen mögen!

Schabbat Schalom!

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