Pessach 5784: Grußwort des Vorsitzenden

«Sie haben versucht, uns zu töten, wir haben gewonnen, lasst uns essen» bedeutet mehr, als Sie vielleicht denken.

Heute, zu dem ich mein Editorial für die Pessachausgabe unserer Zeitung „Darkenu – Unser Weg“ bzw. als Beitrag für unsere Webseite „Orchajim.de“ schreibe, trennen uns von Pessach nur noch etwa eine Woche und ein paar Tage, bevor am 22. April 2024 mit Erew Pessach der „Chag ha´Aviv” beginnt, die Geschichte um den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Mizraim nach Eretz Israel, dem Gelobten Land.

Verbunden mit Pessach sind viele Vorbereitungen, die meistens für die Hausfrau schwer zu stemmen sind, wie z. B der Pessachputz, das Suchen des und das Beseitigen des Chamez, des Gesäuerten, aber nicht minder wichtig sind als das Besuchen der Synagoge und die Teilnahme am Seder.

Wobei wir beim Essen sind. Am Seder wird viel gegessen und getrunken. Besonders die rituellen Speisen wie Matza und Maror, Charosset und nicht zu vergessen, die vier Becher Wein. Alles in Allem ein opulentes Mahl, für das wir der Hausfrau und hier in der Gemeinde, unserer Köchin, ein großes Toda rabah sagen.

Warum essen wir an unseren vielen Feiertagen gern und viel? Nun, es gibt auch Feiertage, an denen wir fasten, die bekanntesten sind Tischa B-Aw und Jom Kippur. Und vielleicht noch Taanit Esther vor Purim. Aber der Satz, mit dem ich das Editorial oder die Betrachtung einleite, hören wir augenzwinkernd und vertraut. „Sie haben versucht, uns zu töten, wir haben gewonnen, lasst uns essen“ – dieser Witz ist die humorvolle Erklärung dafür, worum es beim Seder geht, zumindest für einige. In unserer schnellebigen Zeit, in der das Schnellschnell sogar Eingang bis in die Synagoge findet, einer Zeit, in der einige bedauerlicherweise nach Möglichkeiten suchen, ihren Seder abzukürzen, ist dies eine «Abkürzung» der Extraklasse.

Beim Seder beginnen wir damit, die Geschichte zu erzählen, wie der Pharao uns versklavt hat, mit einem ultimativen Plan, uns zu vernichten, und wie wir dennoch gewonnen und überlebt haben. Dann essen wir.

Ausserdem hört man diesen Satz „Sie haben versucht, uns zu töten, wir haben gewonnen, lasst uns essen“ nicht nur an Pessach, sondern auch an anderen Feiertagen, die an Momente erinnern, in denen die Pläne unserer Feinde vereitelt wurden. Jeder Feiertag hat sein eigenes «Gedenk»-Essen: An Purim lesen wir die Geschichte von Esther in der Synagoge, machen Lärm, wenn der Name Hamans fällt und essen dann Hamantaschen. An Chanukka erinnern wir uns daran, wie die Israeliten die griechischen Syrer aus Eretz Israel gedrängt  und den verunreinigten Tempel wieder reinigten und die Menora wieder anzündeten. Aus Erinnerung zünden wir die Kerzen unserer Chanukkia die ganzen 8 Tage hindurch an, jeden Tag eine Kerze mehr und essen dann Latkes und Krapfen – und die Kinder bekommen Geschenke. Für jeden Tag Chanukka. Am israelischen Unabhängigkeitstag Jom Ha-Azmaut erinnern wir uns an den großen Kampf und den Sieg im Jahr 1948 und essen anschliessend Hummus und Falafel. Und zu Lag B-Omer haben wir wie jedes Jahr unser großes Grillfest in der Gemeinde.

Man könnte meinen, dass das Thema der Erlösung aus Ägypten in den Kiddusch eingebettet ist, mit dem Sukkot, Schawuot und Schabbat eröffnet werden, und dass es daher auch für diese Feiertage gilt.

Vor wenigen Wochen, genauer gesagt, am 24. März, haben wir Purim gefeiert und bereiten uns nun auf Pessach vor.

Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 und ihre Folgen, insbesondere die Trauer um die Ermordeten in Israel und die von der Hamas immer noch verschleppten Geiseln sind nach wie vor in unserer kollektiven jüdischen Seele präsent, daher wurden die Latkes an Chanukka und die Hamantaschen an Purim mit weniger Genuß aufgrund unserer Bedrückung und Trauer verzehrt. Wenn sich die Lage in Israel in den nächsten Wochen nicht dramatisch verbessert, werden das Pessachessen am Sedertisch uns vielleicht nicht mehr so schmecken wie in den vergangenen Jahren.

Dennoch wird der alte Witz immer noch weiter erzählt werden und vielleicht als verbales «Trostpflaster» in einer Zeit dienen, zu der unsere Angst um unsere Lieben, aber auch Angst vor der grassierenden Judenfeindschaft in Europa und der Welt mit den Händen greifbar ist. Aber ich denke, dass wir ihn, besonders jetzt, als mehr als nur einen Witz verstehen sollten, sondern der Witz soll ein Ausdruck von daffke sein, von Trotz, weil wir immer noch hoffen und bangen, dass Israel und seine Zahal, seines Militärs, zu Lande, zu Wasser und in der Luft aus diesem neuen Konflikt als Sieger hervorgehen wird. Darum beten wir ja in jeden G´ttesdienst. Dieser Satz ist nicht nur eine Verkürzung der jüdischen Geschichte, sondern er fasst in vielerlei Hinsicht zusammen, was es bedeutet, Jude zu sein und sein Judentum zu leben.

Sie haben versucht, uns zu töten.

Vom antiken Pharao und seinen Untertanen über Amalek und Haman, das mittelalterliche Christentum – bis in die Neuzeit  und den Islam, Hitler und die Nationalsozialisten, Stalin, Pol Pot bis hin zur heutigen Hamas und ihren Anhängern – unsere Feinde «sind durch die endlosen Jahre hindurch aufgetaucht … erfüllt von einem vergeblichen Gedanken: Dem ein Ende zu bereiten, was Gott gehegt und gepflegt hat» (siehe: Yonah ben Avraham Gerondi ‎ – gest. 1263; “Pforten der Buße”).

Wir haben gewonnen.

Trotz jahrhundertelanger Verfolgung und Unterdrückung, sowohl physisch als auch geistig, mutwilliger Erniedrigung durch die Ghettos in Europa, Berufsbeschränkungen, Armut und Pogrome mit rücksichtslosem Abschlachten haben wir uns geweigert, zu verschwinden und uns in der Opferrolle zu suhlen. Wir sind unverwüstlich geblieben, als jüdisches Volk stark geblieben und haben uns unserem alten Auftrag verpflichtet, «ein Licht für die Völker» zu sein.

Lasst uns essen.

Die ersten beiden Sätze des Witzes erinnern uns an unsere Vergangenheit. Der dritte lädt uns ein, in der Gegenwart zu reagieren: Lasst uns feiern, wie Juden schon immer gefeiert haben – indem wir essen und uns freuen. Aber dieses Essen soll nicht alleine unseren Appetit stillen, sondern auch unsere Seele nähren und uns geistig und seelisch auf alles vorbereiten, was die Zukunft bringt.

In jeder Generation

Die Formulierung «in jeder Generation» kommt in der Pessach-Haggada zweimal vor: «In jeder Generation erheben sich einige gegen uns, um uns zu vernichten, aber der Heilige, gesegnet sei Er, befreit uns aus ihren Händen» und «In jeder Generation sollte sich eine Person als persönlich aus Ägypten ausgezogen betrachten.»

Das bedeutet: «In jeder Generation» haben sie versucht, uns zu töten.

«In jeder Generation» haben wir dank des g´ttlichen Eingreifens gewonnen.

«In jeder Generation» wollen wir uns als von körperlicher und geistiger Knechtschaft erlöst betrachten und nun frei sein, so zu leben, wie es den Juden aufgetragen wurde. In jeder Generation wollen wir zumindest politisch frei sein. Und wenn wir weiterhin unterdrückt werden, wollen wir aufbegehren und uns selbst verteidigen dürfen!

Deshalb lasst uns essen! Mögen wir, während wir mit Begeisterung die traditionellen Sedergerichte genießen, auch einen Appetit auf die Torah und das jüdische Lernen sowie die Befolgung der Mitzwot (Zünden der Schabbatkerzen, Beten, Besuch der Mikwe) entwickeln und pflegen – die «Nahrung», die die jüdischen Seelen schon immer genährt hat wie es heißt:

„Der Ewige wird Seinem Volk Kraft geben. Der Ewige wird Sein Volk mit Frieden segnen.“

Möge die Nahrung, die uns nach dem Auszug aus Ägypten gegeben wurde, das Manna in der Wüste und der Genuß der ersten Frucht in Eretz Israel, die Nahrung, die uns als Volk gestärkt und uns unsere einzigartige Aufgabe in der Welt gegeben hat, uns auch in dieser schwierigen Zeit stärken und uns auf das vorbereiten, was die Geschichte für uns bereithält.

So wünsche ich unseren Gemeindemitgliedern, Freunden der Gemeinde und allen Lesern: Pessach sameach!

Martin Arieh Rudolph, 1. Vorsitzender der IKG Bamberg