Schawuot

Die ewige Torah – Gedanken zum Wochenfest 5784-2024

von Adin Even-Yisrael (Steinsaltz), gekürzt

Schawuot, der Tag an dem die Torah durch G’tt gegeben wurde, wird auch als Tag bezeichnet, an dem Israel die 10 Gebote erhielt. Dies scheint ein natürliches Miteinander zweier Konzepte – das Geben und das Empfangen sind zwei Seiten der gleichen Aktion und anscheinend austauschbare Beschreibungen des Ereignisses.

Trotzdem sind sie nicht identisch. Beide haben ihre eigene, besondere Bedeutung. Wie die jüdische Mystik es beschreibt, ist das Geben eine Bewegung von oben, die sich nach unten richtet, während das Empfangen eine Bewegung von unten ist, die sich nach oben richtet. Und in der Dimension der Zeit ist das Geben der Torah eine einzelne Handlung, wohingegen das Erhalten der Torah ein vielfältiger und fortwährender Prozess in der Geschichte ist.

Bevor wir diesen Punkt vertiefen, mag es hilfreich sein zu verdeutlichen, das das Wort „Torah“ Lehre, Handlungsanweisung, Leitung bedeutet. Torah ist eine Brücke zwischen dem G’ttlichen Wesen und dem Menschen bildet.

Die 10 Gebote sind nicht umsonst als die „Kurzfassung“ der Torah angesehen worden, da sie auf kleinstem Raum die Ansprüche der Menschen zueinander und gegenüber G´tt zusammenbringt. Wir wissen natürlich, dass die 10 Gebote nur ein kleiner Teil des gesamten Kanons an insgesamt 613 Ge- und verboten ist. 248 Gebote, wie die Anzahl der Knochen im Körper des Menschen, 365 Verbote wie es Tage in weltlichen Jahr gibt. Beispielsweise ist das „Du sollst nicht töten“, in den 10 Geboten, kein vorherrschender Grundsatz eines örtlichen Oberhauptes, um eine Fehde wegen „Blutrache“ zu vermeiden. Es ist das Gebot eines Allmächtigen G’ttes und dies ist es, was ihm die Kraft und die Bedeutung gibt. Eines der Gebote der Torah zu übertreten bedeutet hauptsächlich sich G’tt zu widersetzen und erst danach bedeutet es ein Vergehen gegenüber der Gesellschaft.

Um die Gebote G´ttes zu verstehen, müsse wir uns fragen, „was für Gründe hat G´tt, mit uns so und so zu verfahren?“. Dies ist kein moderner Gedanke; er wurde in der Bibel oft genug wiederholt und ist möglicherweise eine grundlegende Erfahrung in allen Religionen. Tatsächlich ist die innere Botschaft der 10 Gebote eine Antwort auf dieses Gefühl der menschlichen Bedeutungslosigkeit. Es ist der zentrale Aspekt der Begegnung am Berg Sinai, wie es geschrieben steht: „Siehe, der Ewige unser G’tt hat uns Seine Herrlichkeit und Seine Größe schauen lassen, und Seine Stimme haben wir mitten aus dem Feuer gehört: heute haben wir es gesehen, wie G’tt mit dem Menschen redet und der am Leben bleibt“ (Dewarim 5:21). Die Bedeutung dieser Begegnung wird in den Worten nicht erwähnt, sondern dass G’tt vor dem Menschen erschien und ihm sagte, was zu tun ist, dass G’tt eine Art des Kontaktes mit dem Menschen errichtete. Und dies ist die Bedeutung der ganzen Torah; alles andere ist Kommentar.

Der Erhalt der Torah selbst ist keine Frage des passiven Hörens der Botschaft der Torah allein; es ist ein Akt der Aufnahme der Schönheit und der Prinzipien, und das Ausführen der Gebote an allen Tagen des eigenen Lebens. Am Anfang war ein bestimmter aufnahmefähiger Zustand des Geistes – “Wir werden tun und wir werden hören.” Auf der einen Seite wurde die innere Bedeutung dieser Formulierung der Bereitschaft erst später offenkundig, wie es Moses mit seinen vierzig Jahre später gesprochenen Worten sagte, als er das Volk verließ, “Aber der Ewige hat euch kein Herz gegeben zu erkennen, Augen zu sehen und Ohren zu hören, bis auf den heutigen Tag” (Dewarim 29:3). Tatsächlich konnte erst viele Generationen später gesagt werden, dass das Volk Israel ein Herz entwickelt hatte, welches fähig war die Torah zu erkennen.

Der Prozess des Erhaltens der Torah hat bis heute fortgesetzt, trotz der Katastrophe mit dem Goldenen Kalb. Es ist ein Prozess den Juden in der echten Aufnahme dessen zu unterweisen, was ihm angeboten wird. Freilich wird dieser Lernprozeß immer wieder gehemmt, nicht nur durch die unterschiedlichen Arten der Ablehnung, sondern auch durch die vielen Formen der unangemessenen und voreiligen Akzeptanz. Nach tausenden von Jahren und zahllosen guten Absichten und unaufhörlichen Auseinandersetzungen von Generationen wahrhaftiger Juden, können wir uns nur einer Sache sicher sein: Daß die Torah, die am Berg Sinai gegeben wurde, fortwährend durch Israel erhalten wird.

Foto: Schawuot 2013, Foto: Roman Kutcher sel. A.