Wajera (25. Tewet/25. Januar – 2. Mose 6,2-9,35)

In der Parascha “Wajera“ wird uns von Abraham erzählt. Er hatte auf Gottes Wort hin, seine Heimat verlassen. Nun ist er auf dem Weg ins gelobte Land. In unserem Wochenabschnitt hören wir mehrmals vom Auftreten der Engel. Sie übermitteln Abraham, Sara und ihrem Neffen Lot göttliche Botschaften und Wegweisung.

Diese Beobachtung lässt uns fragen: Was versteht die Bibel eigentlich unter einem „Engel“? Der Begriff Engel kommt im Hebräischen vom Wort „melacha“, das „Werk“, „Arbeit“ bedeutet. Der Engel ist eine göttliche Kraft der positiven Tat. Er ist in der Welt aktiv und bewegt sie. So ist zum Beispiel der Engel Raffael eine Kraft Gottes im Dienst der Gesundheit. Sein hebräischer Name weist auf seine Funktion und Herkunft hin. Wörtlich übersetzt heißt er: „Gott heilt“.

Stellen wir uns einmal vor: Ein Mensch wacht morgens auf. Er verspürt keine Kraft zum Aufstehen. Doch plötzlich erfüllt ihn eine Energie und er kann den Tag in Angriff nehmen. Diese belebende Wirkung führen wir auf den Engel Gabriel zurück. Sein hebräischer Name bedeutet „Kraft Gottes“. Heilung und Stärkung existieren also nicht als anonyme, freischwebende Mächte. Die Namen der Engel führen sie auf ihren Ursprungsort zurück, auf Gott. Die Bibel und unsere Weisen wollen uns sagen, dass jeder Mensch, der etwas ausrichten möchte, die Kraft dazu nicht aus sich selber schöpft. Er bekommt sie von Gott.

Bevor wir am Abend einschlafen, beten wir das „Schma Israel“, in dem es heißt: „Im Namen Gottes, des Gottes Israel, Michael zu meiner Rechten, zu meiner Linken Gabriel, vor mir Uriel. Mir im Rücken Rafael und zu meinen Häupten die Gegenwart Gottes.“ Mit diesem Gebet erinnern wir daran, dass diese Welt nicht nur nach physikalischen, technischen Gesetzen funktioniert. Sie sind inspiriert. Sie werden aufrecht und in Gang gehalten durch das Wirken und die Energien der Engel Gottes.

Jedes vom Schöpfer in Kraft gesetzte Naturgesetz ist mit einer spirituellen Idee verbunden. So ist z.B. die Anziehungskraft ein Engel. Sie sorgt dafür, dass jedes Geschöpf in seinem eigenen Universum existieren kann. Wir sind jederzeit und überall von Engeln umgeben. Durch ihre spirituelle Energie halten sie uns und unsere Umwelt in Bewegung. Jeder von ihnen hat seine eigene, spezielle Funktion.

Ein Engel erfüllt nie zwei Aufträge. Am Freitagabend singen wir vor dem Abendessen und dem Kiddusch das Lied: „Friede mit euch, Engel des Dienstes, Engel des Höchsten, vom König aller Könige gesandt, dem Heiligen, gelobt sei er.“ Dieses Lied bringt zum Ausdruck, dass uns die Engel Gottes zum Beginn des Schabbats eine herausragende spirituelle Atmosphäre verleihen, die nicht mit der an den übrigen Tagen der Woche zu vergleichen ist.

Die weit verbreitete Vorstellung, dass Engel Flügel haben, stammt aus dem sechsten Kapitel im Jesajabuch. Dort heißt es: „Jeder Serafim hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie.“ Rambam erklärt, dass die Flügel zum Fliegen für eine schnelle, ungehinderte Bewegung stehen. Sie beschreiben die unberechenbare und überirdische Wirkung der spirituellen Kräfte. Die Flügel der Serafim, die die Füße bedecken, bedeuten: Gottes Wirken, die spirituellen Kräfte seiner Engel bleiben unserem Begreifen letztendlich verborgen.

Wie oft können wir nicht erklären, woher uns plötzlich eine Kraft im Leben kommt, mit der wir nicht gerechnet haben!? Eine Antwort auf diese Fragen, liegt tief in Gottes Geheimnis verborgen. Die Flügel der Himmelswesen, die das Gesicht bedecken, bedeuten: Engel sind im Blick auf den Menschen unabhängig. Sie sind von ihm nicht abrufbar. Sie stehen uns auf dem Weg instinktiver Handlungen zur Seite. Zum Beispiel, wenn wir die Hand heben, um uns vor einem herabfallenden Gegenstand zu schützen. Oder: Ein Kind will unbedacht auf die Straße laufen, wird daran aber im letzten Augenblick geistesgegenwärtig von einem Passanten gehindert. Oder wie Rambam schreibt: Ein Soldat versucht im Krieg einen Kameraden zu retten.

Die Beispiele zeigen: Der Entschluss zu solchen geistesgegenwärtigen Handlungen, geht zurück auf einen Engel in dir; im wahrsten Sinne des Wortes auf einen Schutzengel. Im entscheidenden Moment denken die Retter nicht ethisch. Es ist vielmehr eine blitzartige, instinktiv gelenkte Handlung, die der Rettung zugrunde liegt. Angefangen bei Abraham bis zu uns heute: Es sind die Engel Gottes mit ihrem spirituellen Instinkt, die uns begleiten.

Rabbiner Dr. Salomon Almekias-Siegl