Zwei Verse aus dem Wochenabschnitt Ki tissa sind uns sehr bekannt. Wir sprechen sie am Schabbatvormittag, wenn wir den Wein segnen. In unserem Gebetbuch lauten sie:
„Die Söhne Israels sollen den Schabbat hüten. Sie sollen ihn feiern in allen Generationen als ewigen Bund. Zwischen mir und den Kindern Israels ist er ein Zeichen für ewig.“
Im Babylonischen Talmud wird gefragt: Wie ist es möglich, dass man den Schabbat entweihen darf, um einen Menschen zu retten? Hebt diese Tat, die Gesetze zum Schabbat auf?
Rabbi Schimon ben Mansia macht darauf aufmerksam, dass ein am Schabbat Geretteter in Zukunft viele Schabbatot einhalten wird. Damit unterstützt geradezu die Rettung eines Menschenlebens am Schabbat das Gebot, ihn einzuhalten.
Einem Menschen – auch am Schabbat – das Leben zu retten, gehört zu den Pflichten im Judentum. Es etwa nicht zu tun, steht nicht zur Diskussion. Das Leben an sich ist heilig.
Diese Haltung wird in der rabbinischen Literatur erklärt.
Zunächst wird auf eine Stelle im dritten Buch Mose (18,5) hingewiesen. Dort heißt es:
Der Ewige spricht: Ihr sollt meine Satzungen halten und meine Rechte. Denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben.
Hier wird unmissverständlich deutlich: Der Mensch soll durch das Tun der Gebote leben und nicht durch sie sterben.
In der Mischna lesen wir: Jede Tätigkeit, die wir schon vor dem Beginn des Schabbats am Freitag ausführen können, sollen wir erledigen. Sie soll den Schabbat nicht stören.
Maimonides stellt nachdrücklich fest: Der Schabbat soll nicht durch verbotene Tätigkeiten entweiht werden. Auch soll man sich nicht dazu verleiten lassen, diese von Nichtjuden, Frauen oder Kindern ausführen zu lassen. Sie stören die Heiligkeit, sie führen zu seiner allmählichen Einebnung dieses besonderen Tages auf das Niveau eines gewöhnlichen Wochen- und Arbeitstages.
Wie aber verhält es sich mit dem Gebot, einen Jungen an seinem achten Lebenstag zu beschneiden, wenn dieser auf einen Schabbat fällt?
Auch die Brit Mila, die Beschneidung soll am Schabbat und sogar an Jom Kippur vollzogen werden.
Der babylonische Talmud kommt zu dem Schluss: Wenn es schon erlaubt ist, das Gebot der Beschneidung am Schabbat auszuüben, das ja nur auf die Korrektur eines kleinen Körperteils abzielt, dann ist erst recht die Rettung eines Menschenlebens erlaubt bzw. geboten.
Hier gehen die Rabbinen nach der Auslegungsregel vor, vom Kleineren auf das Größere zu schließen.
Zudem sehen sie die Verbindung zwischen dem Schabbat und der Brit Mila in dem gemeinsamen Wort „Ot“ – „Zeichen“. Im Zweiten Buch Mose heißt es:
Haltet meine Sabbate; denn das ist ein Zeichen zwischen mir und euch von Geschlecht zu Geschlecht.
Und die Beschneidung soll ein Bundeszeichen zwischen Gott und Israel sein.
Auch dieser semantische Zusammenhang schließt auf alle Fälle das bedeutendere Werk der Rettung einer Seele am Schabbat ein.
Halten wir fest: Man darf am Schabbat nicht zögern, ein Menschenleben zu retten. Sein Sterben darf nicht in Kauf genommen werden. Daraus folgt konsequenterweise für alle religiösen Juden, dass auch am Schabbat die Sorge um einen Kranken an erster Stelle steht.
Der Arzt muss am Schabbat durch seine Tätigkeit Leben retten. Die Feuerwehr muss Brände löschen. Jede Hilfsorganisation ist verpflichtet, rettend tätig zu werden. Und in Kriegszeiten ist es den Soldaten erlaubt, den Schabbat zu entweihen, wenn sie der Verteidigung des Landes und seiner Bevölkerung dienen.
Die Gesetze der Tora sind uns gegeben, um auf jede erdenkliche Weise das Leben zu fördern, Erbarmen, Gnade und Frieden in die Welt zu bringen. Auch und gerade am Schabbat.
Rabbiner Dr. S. Almekias-Siegl