Israel in Krieg und Frieden: “Von Illusionen befreit” – Lesung mit Chaim Noll

Der Schriftsteller Chaim Noll aus Israel las am 8. September im Jüdischen Lehrhaus Bamberg aus seinen jüngsten Büchern vor. In diesen verarbeitet der in Israel lebende Autor seine Erfahrungen aus vergangenen und gegenwärtigen Kriegen Israels mit der islamistischen Terrororganisation Hamas im Gazastreifen. Im Anschluss beantwortete er zahlreiche Fragen der Gäste.

Der 1. Vorsitzende der IKG Bamberg, Martin Arieh Rudolph, begrüßte den Gast herzlich. Dabei verwies er auf die schwierige Lage der Menschen in Israel, besonders jener, die wie Chaim Noll nur wenige Dutzende Kilometer entfernt vom Gazastreifen leben. Er betonte dabei, wie sehr sich der Krieg in Israel auch durch den zunehmenden Antisemitismus auf den jüdischen Alltag in Deutschland auswirke.

Arieh Martin Rudolph auf dem Podium mit dem Schriftsteller Chaim Noll
Martin Arieh Rudolph, 1. Vorsitzender der IKG Bamberg, begrüßt den Schriftsteller Chaim Noll

Chaim Noll, Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll (1928-2008), ist 1954 in Ost-Berlin geboren und lebt seit 1995 in Israel. Noll begann seine Lesung mit seiner Novelle Die Stille am Morgen nach dem Krieg. Sie erschien 2024. Das autobiografisch beeinflusste Werk handelt aber während des Gaza-Krieges 2008-2009, der in Israel als “Operation Gegossenes Blei” bekannt ist. Das damalige Ende des Krieges habe nur eine illusorische Friedenshoffnung gebracht. Der Angriff der Hamas 2023 habe diesen Prozess der Desillusionierung bezüglich der Möglichkeiten einer Koexistenz mit den Palästinensern nur verstärkt.

Vor Beginn der eigentlichen Lesung machte Noll deutlich, dass die Mehrheit der Israelis der Überzeugung seien, dass die Hamas zerstört werden müsse, bevor der gegenwärtige Krieg gegen das Regime in Gaza enden könne. Dem würde auch die nicht immer offen ausgedrückte Meinung der arabischen Nachbarstaaten Israels zustimmen. Sogar die meisten Golfstaaten, die die Macht des Iran einzudämmen suchten, forderten selbst die Vernichtung der vom Iran unterstützten Hamas.

Nach den jüngsten Angriffen Israels auf das iranische Atomprogramm sei der Iran tatsächlich stark geschwächt worden. Die Angriffe des Iran auf Israel habe den Iran 60 bis 80 Millionen US-Dollar gekostet. Der Iran habe aber nicht damit gerechnet, dass die israelische Raketenabwehr so erfolgreich sei. Daher seien die iranischen Angriffe relativ wirkungslos geblieben. Während Israel sich als bedeutendste Militärmacht im Nahen Osten profilieren habe können, habe der Iran erkennen müssen, dass es selbst erheblich schwächer sei, als gedacht.

Chaim Noll erläutert die aktuelle Lage in Israel und Nahost
Chaim Noll erläutert die aktuelle Lage in Israel und Nahost

Das Leben in Israel habe in der Zeit seit den terroristischen Angriffen der Hamas auf Südisrael am 7. Oktober 2023 viele bedrückende Momente gehabt. Dazu habe auch die israelfeindliche Medienberichterstattung weltweit und die antisemitische Stimmung in den Sozialen Medien beigetragen. Die junge Generation in Israel lasse sich allerdings nicht mehr davon einschüchtern, sondern fühle sich gestärkt in ihrem Willen, ihr Land zu verteidigen und sich keine vermeintliche Friedens – oder Zweistaatenlösung von außen aufzwingen zu lassen. Die Stimme der jungen Israelis sei von wachseneder Bedeutung. Denn Israels Demografie habe sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Inzwischen seien 34 Prozent der Bevölkerung 18 Jahre alt oder jünger, und knapp 65 Prozent der Bevölkerung seien unter 35 Jahre alt.

Titelbild des Buches Die Stille am Morgen von Chaim Noll
Die Stille am Morgen (© XS-Verlag)

Die Stille am Morgen nach dem Krieg beschrieb Noll als authentisches Kriegstagebuch. Dabei sei die Erzählfigur jedoch nicht identisch mit dem Autor – dennoch spiegelt sie den autobiografischen Konflikt eines mitteleuropäischen Intellektuellen wider, der sich als Pazifist und Angehöriger der Friedensbewegung nach seiner Einwanderung nach Israel vor über drei Jahrzehnten dort erst an die Realität des Krieges gewöhnen musste. So reflektiert der Erzähler über den Gaza-Krieg 2009. Für den Leser sind dabei große Parallelen zu 2024-2025 erkennbar:

“Inzwischen ist Gaza City, wie Videos zeigen, zu einem beträchtlichen Teil zerbombt. […] Unsere Bodentruppen, melden die Zeitungen, nehmen in schweren Häuserkämpfen große Teile von Gaza City. Zudem geht die Zahl der auf unser Territorium abgefeuerten Raketen deutlich zurück, worin ‘internationale Beobachter’ eine Schwächung der Hamas sehen. Freut euch nicht zu früh. Was wir für Frieden halten, ist für sie immer nur die Vorbereitung zur nächsten Runde.”

Und an späterer Stelle, nach dem Erhalt der Nachricht eines Waffenstillstandes, entwickelt der Erzähler seine Gedanken weiter: “Glaube ich nicht wirklich daran, dass der Krieg vorbei ist? Nein. Niemand glaubt es. Dieses Eingeständnis ist eigentlich katastrophal. Wir waren sicher, den Krieg überwinden zu können. Aufklärung, Bildung, Erziehung zum Gewaltverzicht. […] Was aber, wenn eine Seite nicht von Vernunft regiert wird, sondern von einer demonstrativen, zum Gesetz erhobenen Unvernunft? […] Was, wenn wir Jahrzehnte lang ins Leere verhandeln, immer neue friedliche Lösungen versuchen, aber letztlich an einer Gesinnung scheitern, die in Krieg und Terror den eigentlichen Sinn des Lebens sieht […]?”

"Aber unvergesslich bleibt die Stille. Die Stille am Morgen nach dem Krieg."
“Aber unvergesslich bleibt die Stille. Die Stille am Morgen nach dem Krieg” – mit Nolls Kriegstagebuch können die Leser die Stimmung in Israel nacherleben

Die Novelle, so erläuterte der Schriftsteller, erzähle eine betont friedvolle Geschichte, in der der Krieg sich eigentlich nur im Hintergrund abspiele. Israelis seien daran gewöhnt gewesen, dass die Kriege mit dem Gazastreifen wieder schnell zu Ende kämen, und es kein anderes Ergebnis geben könne, als einen israelischen Sieg. Diese Selbstüberschätzung habe Israel teuer bezahlen müssen, in dem es 2023 nicht mit einem solch mörderischen Angriff der Hamas auf das Land gerechnet habe.

Ermutigt zeigt sich der Erzähler allerdings durch die Liebe der Israelis zu ihrem Land und die besondere Wirkung des Landes auf seine Menschen, das ihnen immer wieder neue Kraft und Zuversicht schenke: “Ich glaube nicht an unser Scheitern. Ich spüre eine Liebe zu diesem Land, seinen Bewohnern, seinen Landschaften, Tieren und Pflanzen, zum metallisch blauen Himmel dieses strahlenden Wintertags, eine Liebe, die uralt und jung zugleich, die durch nichts zu erschüttern ist.”

Im zweiten Band, den der Schriftsteller im Anschluss vorstellte, erweitert er seine Analyse und vermittelt dabei ein Verständnis für den kulturellen und politischen Puls im Nahen Osten und in Israel. Den Band Verteidigung der Zivilisation: Israel und Europa in der islamistischen Bedrohung verfasste Noll gemeinsam mit dem Kölner Politikwissenschaftler Heinz Theisen. Das Buch erschien 2024. Darin wechseln sich politologische Beitrage von Heinz Theisen mit essayistischen von Chaim Noll ab.

Titelbild "Verteidigung der Zivilisation"
Verteidigung der Zivilisation (© Lau Verlag)

Im Kapitel “Noch ist Israel nicht verloren” führt Noll die Erklärung seines Erzählers aus Die Stille am Morgen gewissermaßen fort, warum Israel immer wieder die Herausforderungen eines grauenvollen Krieges überleben könne. Er beschreibt die Resilienz Israels, die Bereitschaft des Volkes, immer wieder neu die existierende gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden und sich solidarisch untereinander zu zeigen. Dabei könnte der Gegensatz zwischen dem israelischen Individualismus in Friedenszeiten und dem Patriotismus in Kriegszeiten kaum größer sein.

Der Schriftsteller stellt im Kapitel zuerst die religiöse, kulturelle, ethnische und politische Komplexität der israelischen Gesellschaft dar: “Sobald das Gefühl des Erfolges und der Sicherheit überhandnimmt, wie während der vergangenen Jahre, geraten diese Millionen stark ausgeprägter Egos in tausend Konflikten aneinander. […] Das Zusammenleben dieser verschiedenen Gruppen ist extrem kompliziert, spannungsreich und zugleich beglückend. […] Kulturelle Konflikte sind daher in Israel, wo all das auf kleinstem Raum aufeinandertrifft, an der Tagesordnung.”

Chaim Noll liest für das Publikum

Chaim Noll liest für das Publikum und beantwortet dessen Fragen

Der Angriff der Hamas aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023 habe jedoch die andere Seite des israelischen Selbstverständnisses gezeigt. Denn “an diesem Tag wechselte das Ego der meisten Israelis aus dem beschriebenen Modus des Individualismus und Egozentrismus innerhalb weniger Stunden in ein gänzlich anderes Muster: das der Solidarität und überraschenden Disziplin.”

Politische Konflikte würden temporär vergessen, und eine “fast grenzenlose Solidarität” erlebbar. Ein solcher “Patriotismus der Tat” zeige sich in “gegenseitiger Hilfe, Improvisation, Selbstzurücknahme, in tausend Kleinigkeiten im Alltag des Krieges, der dadurch leichter wird.”

Die weiteren Ausführungen des Schriftstellers und die Kernaussage so mancher Antwort auf die zahlreichen interessierten Fragen seitens der Zuhörerinnen und Zuhörer lassen sich mit folgender Aussage über die israelische Entschlossenheit im besprochenen Kapitel gut zusammenfassen: “Plötzlich stand eine andere Priorität im Raum: der Zusammenhalt, das Bewusstsein, nur gemeinsam siegen zu können, die Liebe zu unserem gefährdeten Land.”

(IKG Bamberg)