Gedenken an die Reichsprogromnacht in Bamberg, 09.11.2021. Rede des IKG-Gemeindevorsitzenden Martin Arieh Rudolph.

Gedenkveranstaltung zur Reichsprogromnacht 1938, an der auch die Neue Synagoge in Bamberg zerstört wurde, am Synagogenplatz, 9. November 2021. Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg, Martin Arieh Rudolph, redete Tacheles. Wir dokumentieren die Rede hier. Titelfoto: Martin Arieh Rudolph, Gemeindevorsitzender der IKG Bamberg K.d.ö.R. und Israel Schwierz, Vorsitzender der Liberalen Gemeinde Mischkan ha-Tefila e.V. vereint im Gedenken.

Martin Arieh Rudolph bei seiner Rede. V.r.n.l.: Dr. Salomon Almekias-Siegl, Gemeinderabbiner, Andreas Starke, Oberbürgermeister und Jonas Glüsenkamp, 2. Bürgermeister

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Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Starke,

sehr geehrte Mitglieder der Stadtratsfraktionen,

sehr geehrter Herr Rabbiner Dr. Almekias-Siegl

w-kwod ha-rabbanim, sehr geehrter Herr Schwierz vom Verein Mischkan-ha-Tfila,

werte Geistliche der Religionsgemeinschaften,

sehr geehrte Teilnehmer aus den Bamberger Schulen.

sehr geehrte Synagogenchorsänger,

liebe Gemeindemitglieder der IKG Bamberg, Freunde und Gäste, meine sehr geehrten Damen und Herren,

letztes Jahr fiel coronabedingt das öffentliche Gedenken mit Reden vom Oberbürgermeister und dem Vorsitzenden der IKG Bamberg aus, heute nun findet wieder ein Präsenzgedenken statt. Oberbürgermeister Starke hat in seiner Rede die Ereignisse der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Bamberg Revue passieren lassen. 1943 wurde die IKG Bamberg durch die Nationalsozialisten zwangsaufgelöst und die verbliebenen Juden in die Konzentrationslager deportiert und dort fast vollständig ermordet.

Erst 1951 wurde in Bamberg die jüdische Gemeinde mit Überlebenden der Konzentrationslager wiedergegründet. In Bamberg gab es Anfang der 90-er Jahre nur noch knapp 30 jüdische Personen. Mit dem erlaubten Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion stiegen zwar die Zahlen, aber eine echte Renaissance und eine Akzeptanz von Juden als gleichberechtigte neue Bürger der Bundesrepublik Deutschland erfolgte nicht, auch wenn die IKG Bamberg 2005 ihr über 40-jähriges Provisorium aufgab, um ein neues Gemeindezentrum am 1. Juni 2005 einzuweihen. Zwar wurde die Staatsräson, dass Juden in Deutschland unbeschwert leben können sollten, durch die Regierung immer wieder neu beschworen, aber die Wirklichkeit sieht sehr oft anders aus. Zunehmende Ablehnung, das Absprechen ihres Deutschseins lässt Juden wie auch andere alteingesessene Minderheiten ratlos zurück, weil man nicht weiß, was man tun soll, ohne in Panik zu verfallen.

Eine Begebenheit hier in Bamberg soll zeigen, was ich damit meine, die zeigt, dass mangelnde Sensibilität mehr kaputt machen kann, als man bisweilen denkt. Am 30. Oktober fand eine Stolpersteinsetzung für die Sinti-Familie Seeger an der Oberen Karolinenstrasse 2 statt. Viele Mitglieder der Familie Seeger waren aus Franken und dem ganzen Bundesgebiet gekommen, von Jung bis Alt aus Heidelberg, Frankfurt, Hannover sowie aus Bamberg, Forchheim und Bayreuth. Anwesend waren der Bürgermeister von Eggolsheim, Wohnsitz der Familie Seeger und ein Vertreter von Reckendorf wegen des ersten Treffens nach der Befreiung 1945. Die Veranstaltung wurde von Herrn Pierdzig vom VVN/BdA geleitet, der Zentralrat der Sinti- und Roma in Deutschland war vertreten sowie auch der zweite Vorsitzende des Landesverbandes der Sinti und Roma in Bayern aus Nürnberg, Herr Paskowski, war da. Der Fränkische Tag und das Heinrichsblatt schickten zwei Pressevertreter.

Herr Pierdzig beklagte die Abwesenheit der Bamberger Stadtspitze, der Fraktionsvertreter, dieser, auch in meinen Augen, besonders wichtigen Zeremonie beizuwohnen, um der alteingesessenen fränkisch-deutschen Sintifamilie zu zeigen, dass sie hier willkommen und anerkannt sind. Lediglich 2 Stadträte von Bamberg Linke Liste und eine Stadträtin von Grünes Bamberg waren da, aber nicht als Vertreter der Stadt. Da fragt man sich doch, ob es nicht reicht, mitunter seit Jahrhunderten hier heimisch zu sein, ist man eben doch nur wieder ein Fremder? Wir Juden auch? Auch wenn jetzt gerade 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert werden? Bamberg ist eine der ältesten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Was sind dann diese Feiern wert? Sind sie nicht vielmehr für uns nur eine Beruhigungspille? Nach all dem, was derzeit geschieht, wäre wesentlich mehr Fingerspitzengefühl vonnöten.

Somit ist es also dennoch immer wieder notwendig, den Finger in die Wunde zu legen, und wenn wir Juden dies tun müssen, weil so wenig Interesse besteht, die Umstände aufzuzeigen, die diese offensichtlich gewollten politischen Mißstände erst auslösen und warum es immer wieder erscheint, dass ausschließlich für tote Juden Gedenkfeiern ausgerichtet werden, anstatt den lebenden Juden und den weiteren Minderheiten, die in der Nazizeit gelitten haben, Recht widerfahren zu lassen… Daher kommt man nicht umhin, die Frage zu stellen, “warum wurde aus der Vergangenheit so wenig gelernt?“

Wer meine Reden bisher am 9. November gehört hat, dem fiel auf, dass ich die schiere Übermacht an Haßtaten gegen Juden binnen eines vergangenen Jahres thematisierte. Auch das vergangene Jahr bot wieder jede Menge dieser Taten auf, über die entweder kaum in den Medien berichtet oder die gar bereitwillig unter irgendeinen Teppich gekehrt wurden.

Ich möchte daher nur zwei Fälle herausgreifen, nicht hier in Bamberg, aber zwei recht aktuelle Fälle, die zeigen, wie wenig Empfindsamkeit herrscht, gerade auch im Zusammenhang mit der jüdischen Minderheitsbevölkerung.

So las ich vor wenigen Tagen, dass der Comicschreiber Joe Sacco den Geschwister-Scholl-Preis erhalten soll. Die Sektion Deutschland der Organisation “Akademiker für Frieden im Nahen Osten” hat am 31. Oktober einen offenen Brief gegen die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2021 an Joe Sacco durch die Auslober des Preises, den bayerischen Landesverband des Börsenvereins des deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München gerichtet. Der Grund ist, dass Joe Sacco ein tatkräftiger Unterstützer der israel- und judenfeindlichen Kampagne Boycott, Desinvestitions and Sanctions (BDS) ist, die der Bundestag im Mai 2019 als antisemitisch verurteilt hat. Saccos Comic-Reportagen zum israelisch-palästinensischen Konflikt sind eine einzige Hamas- und Fatah-Propaganda und begründen die verzerrten Sichtweisen von Terrororganisationen wie der Hamas, die in Wort und Tat ihrem Vorbild Mohammed Hadsch Amin al-Husseini folgen, der Mufti von Jerusalem, Hitler-Verehrer – er wurde auch durch Hitler nach Berlin eingeladen- SS-Mitglied und Islamist gewesen ist. Während Sophie und Hans Scholl ihr Leben im Widerstand gegen eine mörderische Diktatur geopfert hatten, die die Vernichtung von Juden im Programm hatten, soll nun ein BDS-Anhänger, der die Vernichtung Israels, also des einzigen jüdischen Staates, propagiert, in deren Namen ausgezeichnet werden??

Und zusätzlich ausgerechnet die Stadt München, die 2017 nach langem Ringen einen Beschluss fasste, endlich der BDS keine Räume mehr zur Verfügung zu stellen. Jetzt aber in München einem Israelhasser eine Bühne für seine Schmähungen zu bieten, ist an Scheinheiligkeit kaum mehr zu überbieten. In der Jury sitzen einige sattsam bekannte Personen, allesamt Verteidiger des BDS.

Ich frage daher, wie oft man auf der Erinnerung an die Widerstandskämpfer für Demokratie und Freiheit und dazu auf den Seelen heutiger Juden herumtrampeln will. Auch ich denke, solange sich Joe Sacco nicht von seinen antisemitischen BDS-Aktivitäten distanziert, ist er dieser Auszeichnung nicht würdig. Das hätte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels leicht recherchieren können, wes Geistes Kind Joe Sacco ist. Und dennoch will man ihm den roten Teppich ausrollen. Die lebenden Juden sind den feinen Jurymitgliedern anscheinend völlig gleichgültig. Das meine ich mit mangelnder Sensibilität Juden gegenüber.

Ein weiterer Aspekt mangelnder Sensibilität sehe ich auch an dem Handeln des seit 3 Jahren amtierenden Oberbürgermeisters der Stadt Freiburg, Martin Horn. Dieser parteilose Oberbürgermeister pflegt eine mittlerweile gut 20-jährige Städtepartnerschaft mit Isfahan im Iran als im Übrigen einzige Stadt in Deutschland. Durch seine verteidigende Städtepartnerschaft biedert er sich dem iranischen Terrorregime an, welches religiöse Kritiker, Homosexuelle und politische Abweichler an Baukränen aufhängt und öffentlich zur Schau stellt. Laut einer Amnesty-Studie wurden im vergangenen Jahr 251 Menschen im Iran hingerichtet – darunter vier Minderjährige. Seit Jahresbeginn sind viele weitere Hinrichtungen bekannt geworden, unter anderem wurde am 12. September der 27-jährige Ringer Navid Afkari im Iran öffentlich hingerichtet, weil er bei einer Demonstration gegen das Regime angeblich einen Sicherheitsbeamten tötete, das war sogar den hiesigen Medien eine Meldung wert. Der Beziehung zwischen Freiburg und Isfahan tut das bisher jedoch keinen Abbruch. Dass Martin Horn damit den jüdischen Gemeinden in Freiburg und der ganzen Bundesrepublik Deutschland und allen, die vor dem iranischen Regime geflohen sind, besonders den Exil-Iranern in Freiburg, offen ins Gesicht spuckt, nachdem er sich sicher am 9. November am Platz der 1938 niedergebrannten Synagoge wieder betroffen zeigen wird, ist ebenfalls an Heuchelei nicht zu überbieten. Es gäbe durchaus auch im Freiburger Stadtrat Bestrebungen für ein Ende der Städtepartnerschaft, aber der Oberbürgermeister will davon nichts wissen.

Daher frage ich mich immer öfters, ob das alles nur Dummheit ist oder Berechnung, uns Juden das Leben in Deutschland noch im Nachhinein zu versauern.

Es ist ja nicht so, dass man erst warten muß, bis es ein Attentat auf eine jüdische Gemeinde oder jüdische Menschen gibt. Es fängt oft im Kleinen an. Mit Dingen, die gesagt werden, aber nicht gesagt werden sollten, bzw. bei denen es keinen Widerspruch gibt. Leider kommt noch oft vor, dass Leute, die sich dann einmischen könnten, achselzuckend oder lächelnd darüber hinwegsehen, weil sie sonst Angst haben, von Aggressoren selbst an Leib und Leben angegriffen zu werden.

Wenn wir da anfangen, sensibler zu sein und uns insbesondere um die angegriffene Person kümmern und ihr beizustehen, gleich ob sie jüdisch ist oder nicht, dann ist auf jeden Fall schon viel getan.

Wir alle sollten lernen, dass religiöse und nationale Minderheiten ein normaler Teil unserer Gesellschaft sind. Ich hoffe, dass noch zu unseren Lebzeiten ein Umdenken beginnt. Das kann unsere Gesellschaft im richtigen Moment zusammenhalten.

Ich danke Ihnen.

Gemeiderabbiner Dr. Salomon Almekias-Siegl beim Gebet
Musikalische Umrahmung durch den Synagogenchor der IKG Bamberg
Dankeschön an Heinrich Kolb, der uns die Fotos freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Creative Commons 4.0