Parascha Acharei Mot

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Von Rabbiner Dr. S. Almekias-Siegl

Quelle des Lebens

3. BM Wajikra 16, 1 – 18, 30

Hütet Meine Gesetze und Meine Rechtsordnungen, die der Mensch (‘Ha’adam’) zu erfüllen hat, damit er durch sie lebe, Ich bin G-tt

Waj. 18, 5

Aus der Verwendung des Wortes “Ha’adam”, der Mensch, zieht der Midrasch “Torat Kohanim” eine bedeutsame Schlussfolgerung:

Selbst ein Nichtjude, der das g-ttliche Gesetz erfüllt, steht dem Hohepriester gleich; denn es heisst: welche der Mensch erfüllt, damit er durch sie lebe.

Der Verzicht auf den Gebrauch der möglichen Worte Jisrael, Levi oder Kohen, erlaubt diese Interpretation. Dazu bemerkt S.R. Hirsch:

Leben, Lehre, G-ttesnähe, Glückseligkeit und Heil ist somit nicht nur für Israel mit dieser Gesetzeslehre eröffnet, sondern jedem, der seine Welt- und Menschenanschauungen und Lebensgrundsätze aus ihr schöpft und durch Erfüllung ihrer Chukim und Mischpatim sich zu Höhe reinen Menschentums erhebt, ist damit die höchste, dem Menschen erreichbare Stufe der Vollendung und Glückseligkeit in der G-ttesnähe zugesichert.

Kein Mensch kam gleichsam G-tt so nahe wie der Hohepriester, als er am Jom Kippur, am heiligsten Tag des jüdischen Jahres, das Allerheiligste im Tempel betreten durfte. Indem die Tora, die g-ttliche Lehre, allen Menschen offensteht, haben alle die Möglichkeit, selbst bei nicht existierendem Tempelheiligtum, G-tt nahezukommen. Wer sich in ehrlicher Absicht nähert, dem stehen die Tore der Tora offen.

Diese Interpretation unseres Passus bezieht sich auf das geistige Leben und Überleben dank der Tora. Doch unsere Weisen haben darin auch die Lehre gefunden, dass zur Lebensrettung eine Gesetzesübertretung nicht nur gestattet, sondern ausdrücklich geboten ist:

Woher entnehme ich, dass Lebensgefahr (‘Pikuach Nefesch’) den Schabbat verdrängt? Es heisst, die der Mensch erfülle, damit er durch sie lebe, und nicht damit er durch sie sterbe

Joma 85b

Die einzige Ausnahme machen die Verbote des Götzendienstes, der Unzucht und des Mords, deren Verletzung selbst zur Lebensrettung nicht gestattet sind. Wie hoch der Wert eines einzelnen Menschenlebens im Judentum eingeschätzt wird, geht aus der folgenden Mischna hervor:

Der erste Mensch (Adam) wurde als Einzelwesen erschaffen, um dir beizubringen, dass jedem, der ein Menschenleben in Israel zerstört, es so angerechnet wird, als hätte er eine ganze Welt vernichtet. Und jedem, der ein Menschenleben in Israel rettet, wird es so angerechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten. Ein weiterer Grund für die Schöpfung des ersten Menschen als Einzelwesen: Damit nicht einer zum anderen sage, mein Vater ist wichtiger als deiner. Auch damit die Ketzer nicht behaupten, es gäbe viele Götter im Himmel. Es zeigt dir auch die Grösse G-ttes. Der Mensch prägt viele Münzen mit einem Münzstock und alle sind sie identisch. Der König der Könige dagegen, G-tt, prägt jeden Menschen nach dem Beispiel von Adam, und doch gleichen sie einander nicht. Daher soll jeder Mensch sich sagen – um meinetwillen wurde die Welt geschaffen (und ich trage eine besondere Verantwortung für sie)

Sanhedrin 4, 5

Weil man vielleicht instinktiv, auch im Falle eines Kranken, der sich am Schabbat in Lebensgefahr befindet, vor einer Übertretung der Schabbatgebote zurückschreckt, haben unsere Weisen grössten Wert darauf gelegt, dass solche Überlegungen nicht am Platz sind.

Der Rambam formuliert es wie folgt:

Wenn man lebensrettende Massnahmen ergreift, lässt man diese nicht durch Nichtjuden, Minderjährige, Knechte oder Frauen ausführen, was zu einer Geringschätzung des Schabbat in ihren Augen führen könnte. Man lässt diese Massnahmen durch die angesehensten Männer in Israel und ihre Weisen vollziehen. Es ist verboten, die Entweihung des Schabbat bei Lebensgefahr für einen Kranken hinauszuzögern, denn es heisst: die der Mensch erfülle, damit er durch sie lebe.

Hilchot Schabbat 2, 3

Eine weitere Dimension eröffnet die Literatur des Chassidismus zu diesem Passus: Aufgabe jedes Juden ist es, die Mizwot mit Leben zu erfüllen, sie nicht zu toten Gesetzesbuchstaben verkommen zu lassen, sondern sie zum Ausdruck reinster Lebensfreude und Freude am Dienst vor dem Schöpfer werden zu lassen (Rabbi Menachem Mendel von Kozk).

Schabbat Schalom!

https://www.talmud.de/tlmd/die-torah-eine-deutsche-uebersetzung/die-torah-Acharei-Mot/