Parascha Kedoschim

Bildquelle: Der Priester Achimelech übergibt David das Brot und das Schwert, 1667-1668, Wikimedia

Von Rabbiner Dr. S. Almekias-Siegl

Verantwortung und Zivilcourage

3. BM Wajikra 19,1-20,27

Gehe nicht als Ausspäher (‘Rachil’) umher unter deinem Volk, stehe nicht neben dem Blut deines Nächsten. Ich bin G-tt

Waj. 19, 16

Der Kommentar “Ha’amek Dawar” versteht unter dem “Rachil” einen Händler, der mit seinen Waren von Haus zu Haus zieht, hier eine Information aufschnappt, dort eine Neuigkeit weitergibt, letzten Endes nicht nur seine Waren, sondern auch seinen Mitmenschen “verkauft”.

Die Übersetzung des hebräischen “Rachil” als Ausspäher kommt der Interpretation nahe, welche Raschi diesem Wort gibt. Er verweist auf das altfranzösische “espiement”, was unserem Ausspionieren entsprechen dürfte. Die Tora verbietet das Eindringen in die Privatsphäre des Nächsten, das Kolportieren von Gerüchten, das Weitererzählen von Klatsch, in unseren Augen alles harmlose Dinge, die aber mitunter tödliche Folgen haben können.

Chiskuni macht darauf aufmerksam, dass die beiden Verbote im obigen Passus nicht durch ein “Waw” verbunden sind, was sie als voneinander unabhängige Gesetze gekennzeichnet hätte. Gerade das fehlende “Waw” zeigt den inneren Zusammenhang auf, wobei er den Propheten Jecheskel zitiert:

Ausspäher waren bei dir, um Blut zu vergiessen

Jech. 22, 9

Auch Ibn Esra verbindet beide Aussagen und verweist auf eine Episode im Leben von David, wo das bösartige Weitergeben einer Information zahlreichen Menschen das Leben kostete (Schmuel I 21, 22):

Auf der Flucht vor König Scha’ul kommt David in die Priesterstadt Now, deren Bewohner nichts über die Spannungen zwischen Scha’ul und David wissen. Der Priester Achimelech versieht David mit Lebensmitteln und einer Waffe, worauf dieser weiterzieht. Der ebenfalls anwesende Edomite Do’eg, der Oberste der Hirten Scha’uls, der um den tödlichen Hass gegen David wusste, berichtet dies dem König Scha’ul. Dieser lässt den arglosen Achimelech vorladen, beschuldigt ihn des Hochverrats, und als keiner der anwesenden Höflinge sich getraut, Hand an ihn zu legen, ist es Do’eg, der Achimelech und alle Bewohner der Stadt Now ermordet.

In den Psalmen (52, 1-11) beklagt David diese furchtbare Tat als Ergebnis der “Vernichtung bringenden Worte der Zunge des Truges”. Gerade in der Schreckenszeit des Zweiten Weltkrieges, unter dem Naziregime in Europa, war das Denunzieren geflüchteter und sich versteckt haltender Juden an der Tagesordnung. Unter den stummen Blicken der Nachbarn, ohne deren Protest oder rettendes Eingreifen, wurden sie von den deutschen Schergen und deren Gehilfen ihrem grausamen Schicksal zugeführt.

Aus dem zweiten Teil unseres Passus leiten unsere Weisen im Talmud das Prinzip der Mitverantwortung und der Zivilcourage ab:

Woher weiss ich, dass wenn jemand seinen Nächsten in einem Fluss ertrinken sieht, oder wie ein wildes Tier ihn wegschleppt, oder wie Räuber ihn überfallen, er verpflichtet ist, ihn zu retten? Es heisst: du sollst nicht neben dem Blut deine Nächsten stehen

Sanhedrin 73b

An einer anderen Stelle erweitert der Talmud dieses Prinzip um den Fall, dass man eine Zeugenaussage zugunsten seines Nächsten in einer Gerichtsverhandlung nicht zurückhalten darf, sondern verpflichtet ist, auszusagen. Rabbiner Baruch Halevi Epstein zitiert in seinem Kommentar “Tossefet Bracha” ein frühes Responsum, welches festlegt, dass man nicht nur das Leben seines Nächsten, sondern auch dessen Vermögen zu retten verpflichtet ist. Interessanterweise heisst Blut im Hebräischen “Dam”, das Vermögen “Damim”!

Die Tora fordert unser mutiges Eingreifen immer dann, wenn unsere Mitmenschen oder deren Eigentum in Gefahr geraten. Sie schuldet kein feiges, betretenes Daneben Stehen und Wegschauen. Wer rettend handeln kann und dies nicht tut – wird mitschuldig.

Wer seinen Familienangehörigen etwas verwehren kann (eine Sünde) und dies unterlässt, wird für seine Familienangehörigen zur Rechenschaft gezogen; wer den Leuten seiner Stadt, wer der ganzen Welt was verwehren kann und es nicht tut – er wird zur Rechenschaft gezogen

Schabbat 54b

Nun verstehen wir auch den Schluss unseres Satzes – “Ich bin G-tt”. In der Interpretation von Raschi: “Ich bin beglaubigt, den Lohn zu bezahlen oder die Strafe zu vollziehen.” Uns obliegt es, unserer Mitverantwortung für diese Welt gerecht zu werden und somit auch vor G-tt zu bestehen.

Schabbat Schalom!

https://www.talmud.de/tlmd/die-torah-eine-deutsche-uebersetzung/die-torah-Kedoschim/