Rosch ha-Schana ist für Juden auf der ganzen Welt nicht nur der Beginn des neuen Jahres 5783 und von Tischri, dem ersten Monat im jüdischen Kalender.
Denn an diesem Tag wurde der Mensch, zuerst Adam und aus diesem Eva, geschaffen. Auch wenn die g’ttliche Schöpfung schon sechs Tage vorher begann, war dies die Vollendung der Welt und Rosch ha-Schana wird deshalb auch der zweitägige Festtag (wir feiern diesen Tag in der IKG Bamberg als einen Tag), der als „Haupt des Jahres“ angesehen und in der ganzen Gemeinde als Neujahr gefeiert wird. Für Juden gibt es keinen Zweifel, dass G’tt sich der Welt an diesem hohen Fest jedes Jahr aufs Neue mit all seiner Kraft zuwendet und über das gesamte Jahr begleitet, wenn die Menschen sich ihm dementsprechend an Rosch haSchana, dem Beginn der Hohen Feiertage, gebührend hinwenden.
Rosch ha-Schanah ist der Beginn der Jamim Noriam, der Ehrfurchtsgebietenden Tage. So hat das Fest durchaus auch einen bivalenten Charakter. Wir sollen an Rosch ha-Schanah fröhlich sein. Wir wünschen uns ein gutes und süßes Neues Jahr und dass dieses neue Jahr süß sein möge, wie der Honig, den wir zusammen mit einem etwas säuerlichen Apfel verzehren. In gewisser Weise symbolisiert der säuerliche Apfel das vergangene Jahr, meistens eben doch nicht so süß, wie wir uns das vergangene Jahr erst gewünscht hatten. Die letzte Erinnerung an dieses Jahr stellt der Tischa b-Aw, der 9. Aw von vor etwa 7 Wochen, dar, der Tag, an dem wir uns schmerzlich daran erinnern, dass unser Mischkan, der Tempel, das Allerheiligste, zweimal zerstört wurde, einmal 586 vdZ durch Nebukadnezar den Großen und 70 ndZ durch die Römer. Beiden Ereignissen gemein war ein langjähriges Exil – 70 ndZ praktisch bis zur Wiedergründung Israels 1948.
Der Honig, und je mehr, desto besser, soll verdeutlichen: Dieses Jahr soll wirklich süß werden. Hoffen wir es, zumindest für dieses neue Jahr. Bivalent ist das Fest, weil 10 Tage später mit Jom Kippur der Tag des Gerichtes anbricht. Wir legen dann G´tt unsere Sünden wider ihn vor in der Hoffnung, dass er uns fehlbaren Menschen immer wieder neu verzeiht. Es ist ein Tag, an dem wir unsere Leiber und Seelen kasteien sollen, indem wir fasten und Buße tun. Und dennoch, Jom Kippur bleibt ein Fest, wenn auch ein ernstes Fest.
An Rosch ha-Schanah zu Beginn und an Jom Kippur zum Ende des Tages blasen wir den Schofar. Der Schofarton ist durchdringend, gellend, es ist ein Weckruf an uns alle, an unsere Seelen, zu erkennen, dass es G´tt ist, der der oberste Herrscher und Schöpfer der Welt ist. Wir blasen den Schofar, ein Instrument aus dem gedrehten Horn eines Widders, als Erinnerung an das Opfer, das Abraham bereit war, an G´tt zu geben: seinen Sohn Jitzhak. Und als G´tt sah, wie ernst es Abraham war, er wollte ihn auf die Probe stellen, zeigte er ihm den Widder, der dann anstatt seines Sohnes geopfert wurde und das alle Zeit zeigen wollte, dass G´tt keine Menschenopfer will, was die umliegenden Völker, die alle durch die Jahrhunderte hinweg verschwanden, praktizierten.
Das Üben von Teschuwa, der Reue und der Umkehr zu G´tt, heißt für uns in der Praxis: alle sollen über ihre Taten und Gedanken selbstkritisch nachdenken und erkennen, was man im nächsten Jahr verbessern oder ändern muss, zum Beispiel die wirklich wertvollen Dinge über Belanglosigkeiten und Luftschlösser zu stellen. Tatsächlich war es neben der Schöpfung des Menschen auch der Tag der ersten Sünde. Und damit, mit dem Bekenntnis unserer Sünden, sollen wir schon einmal an Rosch ha-Schanah beginnen. Und noch mehr an Jom Kippur. Deshalb verbringt man dann an Jom Kippur den größten Teil des Fests in der Synagoge und jeder bittet G’tt persönlich und mit Reue, seine Krönung als Herrscher der Welt erneut zu akzeptieren und somit den ewigen Bund zu erneuern.
Andererseits steckt im ertönenden Schofar auch schon der Ruf des Menschen, der sein Handeln überdacht und seine Demut vor G’tt in seinem Herzen anerkennt, diese aber nicht in eigene Worte fassen kann. Wie ein Vater versteht G’tt diese Worte seiner Kinder problemlos und umarmt sie mit seiner unerschöpflichen Liebe. Auch als die Torah, die 5 Bücher Mosche, am Berge Sinai empfangen wurde, konnte man den Schofar hören. Und so soll er auch erklingen, wenn G’tt alle Juden als Guter Hirte nach der Ankunft des Moschiach (mögen wir es alle noch zu unseren Lebzeiten erleben) ins Heilige Land führen wird.
Rosch haSchana wie Jom Kippur sind besondere Tage. Nicht nur essen wir am Abend von Rosch ha-Schanah Apfel mit Honig, um uns ein süßes Jahr zu wünschen, sondern wir gehen nach dem Mincha-(Nachmittags-)Gebet des ersten Tages Rosch ha-Schanah an das Ufer eines Meeres oder Flusses, in dem Fische schwimmen, um unsere Sünden symbolisch in tiefe Wasser zu werfen, damit die sie Fische aufnehmen und weit weg tragen. Diesen Brauch nennt man Taschlich. In dieser Zeit ist das Wasser wichtig. Nicht nur beim Taschlich, sondern man geht selbst in die Mikwe, das jüdische Ritualbad, um mit einem gereinigten Gewissen vor sich selbst, vor anderen und besonders vor G´tt das neue Jahr zu beschreiten.
Martin Arieh Rudolph (1. Vorsitzender der IKG Bamberg K.d.ö.R.),
Patrick H.-J. Nitzsche (Antisemitismusbeauftragter der Stadt Bamberg)