Offener Brief des Antisemitismusbeauftragten der Stadt Bamberg, Patrick Nitzsche M.A., Bamberg 14.04.2023

„Tod, Tod, Tod Israel!“ – „Tod den Juden!“. Antisemitische Ausschreitungen vom 08.04.2023 in Berlin: So etwas darf es bei uns in Bamberg nicht geben!

In den Tagen nach den skandalösen „Protesten“ in Berlin liefen auch hier in Bamberg bei Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde und bei mir als städtischem Antisemitismusbeauftragten die Telefone heiß. Die häufigste Frage lautete, ob und warum weder Empörung von Kirchen, politischen Parteien, Bündnissen gegen Menschenfeindlichkeit sowie Einzelpersonen noch Solidaritätsbekundungen konkret für die Juden hier vor Ort stattfänden. Dies ist in anderen Städten üblich und hat dazu veranlasst, gemeinsam mit der Öffentlichkeits- und Pressestelle (JKL) der hiesigen IKG ein Stimmungsbild für Bamberg zu erheben. Hierfür wurden am 13. April mündliche und schriftliche Interviews mit verschiedenen Religionsvertretern, der Stadtöffentlichkeit, Passanten in der Stadt sowie nicht zuletzt mit Bamberger Jüdinnen und Juden durchgeführt, deren stichprobenhafte Ergebnisse (meist anonymisiert) auf der nächsten Seite zusammengefasst nachvollzogen werden.

Rund 200 Menschen beteiligten sich am 08.04.2023 an einer israelfeindlichen Demonstration in Berlin. Auf der Demonstration, zu der auch die PFLP-nahe Gruppe Samidoun aufrief, wurden antisemitische, volksverhetzende und gewaltverherrlichende Parolen gerufen: „Tod, Tod, Tod Israel! Ich erzeuge den blutigen Körper! Tod, Tod, Tod Israel! Tod den Juden! Mit unserer Seele und unserem Blut befreien wir Aqsa! O Qassam-Brigaden, Rache, Rache! Tel Aviv, die Antwort wird kommen! O Qassam, Tag für Tag!“ Zudem wurde Freiheit für Mörder und Terroristen gefordert: „Freiheit für Khader Adnan. Der Gefangene, der seit 63 Tagen im Hungerstreik ist.“ (Plakat von Samidoun; Adnan ist Terrorist von „Islamischer Dschihad in Palästina“), „Freiheit für Walid Daqqah“ (Plakat von Samidoun; Daqqah entführte und tötete 1985 einen israelischen Soldaten) sowie u.a. „Freedom for Ahmad Manasra“ (Plakat einer Demo-Teilnehmerin; Manasra attackierte 2015 zwei Israelis mit einem Messer). Auf den Bildern und Videos von den Ausschreitungen sind Männer und Frauen vom Kindesalter bis ins höchste Alter zu sehen. Die PFLP wird von der EU als Terrororganisation gelistet, Samidoun ist in Israel offiziell verboten. In Berlin und vielen deutschen Städten sind für die kommenden Wochen bereits zahlreiche weitere potentiell antisemitische Demonstrationen angemeldet. Am 14. Mai 2023 wird der Staat Israel 75!

Zusammenfassung der Interviews

Die meisten in der Innenstadt angesprochenen Personen waren sehr offen für die untenstehenden Fragen und wollten sich freiwillig und eindeutig positionieren. Abgesehen von denjenigen, die aus „Zeitgründen“ oder anderen Angaben keine Fragen beantworten wollten, gab es vereinzelt Gesprächspartner, denen die Themen „Juden“ oder „Antisemitismus“ entweder sichtliches Unbehagen bereiteten oder für die die Themen sogar zu einer sehr schroffen bis ablehnenden Reaktion führten.

So gut wie alle der 25 mündlich Befragten, bei denen ein Interview zustande kam, haben von den Szenen in Berlin aus den Abendnachrichten bzw. der Tagespresse gehört bzw. gelesen. Diejenigen, die davon im Interview zum ersten Mal hörten, reagierten in den meisten Fällen mit tiefer Bestürzung bis Fassungslosigkeit, in zwei Fällen mit zustimmender Reaktion auf die „Proteste“.

Zwei Ehepaare aus Passau, ein Ehepaar aus Rheinland-Pfalz, ein katholischer Priester, zwei Studenten und 12 Bamberger Privatpersonen äußerten sich unabhängig voneinander zu den Vorfällen in Berlin als „Armutszeugnis“, „Schande“, „Verbrechen“. Mehr als die Hälfte der Interviewpartner, wie der 29-jährige Koch des Bamberger Restaurants Hofbräu Paul Bruder sehen trotz der vermeintlichen Entfernung und der Eigenheiten von Berlin auch die eigene Stadt in der Verantwortung, allen voran Stadtverwaltung, Stadtrat und Polizei, was ein „rechtzeitiges Verbot“ angemeldeter Veranstaltungen bzw. einen „Abbruch“ einer solchen in der eigenen Kommune angeht, wie auch die „konsequente Strafverfolgung“ im Nachgang. Der Aussage „Eigentlich braucht es Zeichen und Schritte von allen Seiten, den Offiziellen und der Zivilbevölkerung“ stimmten alle Befragten zu, abgesehen von den zwei Personen, die solche Kundgebungen wie in Berlin „richtig“ fanden.

Bei den bislang ausgebliebenen Solidaritätsbekundungen durch z.B. die christlichen Kirchen oder muslimische Gemeinden gegenüber den jüdischen Gemeinden in Bamberg reagierten die Befragten sehr unterschiedlich. Einige sehen hierzu eine klare Notwendigkeit und Nachholbedarf, einige mehr halten „Solidarität“ im Allgemeinen heutzutage für überstrapaziert und solche Bekundungen für „inflationär“ oder sogar „häufig geheuchelt“. Laut dem befragten Priester herrsche in der katholischen Kirche ohnehin gegenüber Juden und noch mehr bezüglich Israel eine gewisse Doppelmoral, „da man es sich nicht mit katholischen Palästinensern oder palästinensischen Katholiken verscherzen“ wolle und sich andernorts mit „Lippenbekenntnissen als neutral“ darstelle. Er selbst betonte seine ernst gemeinte Solidarität mit den hier lebenden Juden und nannte konkrete Maßnahmen, was er im Ernstfall machen würde.

Auch Lyrikerin Nora Gomringer äußerte sich schriftlich zurückhaltend gegenüber bloßer Solidaritätsbekundung: „Dieser Beistand steht meines Erachtens ständig in der Gefahr reines Lippenbekenntnis im Rahmen eines sich wiederholenden Schauspiels zu sein, zu werden. Diese Kundgebungen haben „Tradition“, sind in der Regel volksverhetzenden Charakters und verlassen das Terrain der freien Meinungsäußerung doch eigentlich immer zugunsten einer menschenverachtenden Rhetorik“.

Auch wenn in Bamberg (zum Glück) noch keine derartigen Veranstaltungen stattfanden, sollte nicht darauf gewartet werden, bis es soweit sein könnte. Schließlich ereignete sich vor 4 Jahren mitten in unserer Stadt eines der schlimmsten Attentate auf jüdisches Leben

in Bayern überhaupt, welches die betroffene Person mit bis zu ihrem Lebensende andauernden Folgen nur knapp überlebt hat. Auch Martin Arieh Rudolph schildert, dass man ihn vor nicht langer Zeit „persönlich und sehr direkt in einem Schreiben mit dem Tod bedroht hat, aber wenn Hunderte zum Tod von allen Juden oder ganz Israel aufrufen, dann fühlen wir Juden uns erneut im Stich gelassen. In Bamberg haben wir das Glück, dass die Polizei unsere eigenen Veranstaltungen stets beschützt. Wir haben ein vertrauensvolles und sehr gutes Verhältnis zur Stadt-, Kriminal- und Bundespolizei sowie zum Staatsschutz und sind hierfür jeden Tag dankbar!“

Bei antisemitischen Motiven kommt vermehrt Israel bzw. der Nahostkonflikt ins Spiel. Immer häufiger berichten Juden und Jüdinnen in Bamberg, dass sie in alltäglichen Szenarien wie beim Cafébesuch urplötzlich von anderen Gästen zu Repräsentanten des Staates Israels oder sogar persönlich dafür verantwortlich gemacht werden, „was ihr da mit den Palästinensern macht“, „da braucht ihr euch nicht wundern, das geschieht euch schon recht“ bezüglich heutigen Antisemitismus, wenn sie nur wie jeder andere in Ruhe ihren Kaffee trinken wollen, aber man auf irgendeine Weise als Jude oder Jüdin wahrgenommen wird.

Für das in der Regel „schiefe Israelbild“ und eine dadurch ausgelöste antisemitische Wahrnehmung hierzulande von Juden und allgemein in der Bevölkerung tragen laut den allermeisten Befragten Medien und die Presse eine „maßgebliche Schuld“. Wenn dann Hunderte in aller Öffentlichkeit in Berlin oder sonst einer deutschen Stadt „Tod den Juden!“ und Weiteres unsanktioniert skandieren dürfen, fühlen sich auch hier in Bamberg Juden nicht sicher, einige bereiten nun ihre Alijah (wörtl. Aufstieg; Auswanderung) nach Israel vor.

Von jüdischer Seite in Bamberg und ganz Deutschland wird verstärkt gefordert, dass die realen Bedrohungen für Juden mit – meist als vorbildlich empfundenen, aber eben allein nicht ausreichenden – „Gedenkritualen“ am 27. Januar oder 9. November am drängendsten sind. Über beides müsse auf allen Ebenen von den Schulen bis in die mediale Berichterstattung aufgeklärt werden, wie es abschließend im schriftlich übermittelten Statement von Gemeindemitglied Eckhard aus der IKG Bamberg deutlich wird:

„Die Berichterstattung über die Demo war in den Medien ja sehr zurückhaltend. Was mich sehr, sehr gewundert hat, ist die Zurückhaltung der verantwortlichen Politiker. Es kann doch nicht öffentlich zugelassen werden “Tod den Juden ” zu rufen. Auch wenn das in der Migrantensprache gerufen wurde. Soweit ich es erfahren habe, wurden ja noch andere Schmähungen über die Juden und Israel gerufen. Für mich ist nicht nachvollziehbar, kluge Reden am Holocaust-Tag zu machen, aber hier das zu ignorieren. Wer zu Mord aufruft sollte zu Verantwortung gezogen werden, vor allem, wenn ich an unsere deutsche Geschichte denke. Auch die Nazis haben klein angefangen. Auch hätte die Demonstration sofort nach diesen Aussagen aufgelöst werden müssen, letztes Jahr bei Corona hat doch die Polizei das auch geschafft. Laut Medien sollen es ein paar Hundert Menschen gewesen sein. Warum läßt man manche hierzu einfach gewähren. Auch wenn ich nach dem II. Weltkrieg geboren wurde, sehe ich doch die Gedenkstätten Dachau, Oranienburg und Buchenwald natürlich auch Auschwitz nur um einige zu nennen, wo man sicherlich genau sehen kann, wo Worte in Taten umgesetzt wurden. Die Islamverbände könnten hier aufklären. Auch die Schulen gehören mit dazu.“

Fazit und Appell

Bamberg ist zwar nicht Berlin und das ist in fast jeder Hinsicht auch gut so, aber jeder von uns hat die Verantwortung, dass es so bleibt!

Antisemitismus ist nicht das Problem der Juden, sondern ein gesamtgesellschaftliches. In jeder Stadt gilt dies entsprechend für die gesamte Stadtbevölkerung, in jedem Dorf für alle Dorfeinwohner.

Sie erhalten dieses offene Schreiben zu Ihrer freundlichen Kenntnisnahme mit der herzlichen Einladung, darauf auf die Ihnen am angemessensten erscheinende Art und Form zu reagieren.

Empfänger des offenen Schreibens

– Prälat Georg Kestel (Erzbistum Bamberg)

Ute Nickel (Dekanat Bamberg)

Mehmet Çetindere (DITIB Bamberg)

Samer Zgool (Islamisches Kulturzentrum Bamberg المركز الإسلامي ببامبرغ)

Gönül Yildiz-bulut (Bamberg Alevi Kültür Merkezi – Alevitische Gemeinde Bamberg)

– Oberbürgermeister Andreas Starke (Stadt Bamberg)

– Bürgermeister Jonas Glüsenkamp (Stadt Bamberg)

– Bürgermeister Wolfgang Metzner (Stadt Bamberg)

Christian Hader – Stadtrat & Ulrike Sänger (Fraktion Grünes Bamberg)

– Peter Neller (Fraktion CSU Kreisverband Bamberg)

Heinz Kuntke (Fraktion SPD Bamberg)

– Norbert Tscherner (Fraktion Bamberger Bürger Block)

Martin Pöhner (Ausschussgemeinschaft Freie Wähler Bamberg StadtBambergs unabhängige Bürger – BuBFDP Bamberg)

– Dr. Hans-Günter Brünker (Ausschussgemeinschaft Volt BambergÖDP Bamberg Stadt/LandBambergs Mitte)

– Armin Köhler (Wählergruppierung AfD)

– Stephan Kettner (Wählergruppierung Bamberger Linke Liste)

Basti Sauer (DGB Oberfranken)

– Astrid Schön-Roeder (Omas gegen Rechts Bamberg)

Ralph Korschinsky (Katholische Arbeitnehmerbewegung Bamberg)

Mitra Sharifi (Freunde Mib)

– Dekan Hans-Martin Lechner (Zelt der Religionen)

– Mechthildis Bocksch (Willy-Aron-Gesellschaft Bamberg e.V.)

Verfasser

Patrick H.-J. Nitzsche, M.A.

Antisemitismusbeauftragter

Amt für Inklusion

Heinrichsdamm 1

96047 Bamberg

antisemitismusbeauftagter@stadt.bamberg.de

0951 87-1874

0157-8660 2990

Photo: Screenshot democ. / Youtube