Heute Abend ist der Ausgang des jüdischen Monats Tischa b-Aw (wörtlich: der neunte [Tag] des [Monats] Aw). Wie immer nach dem jüdischen Kalender beginnt der Feiertag am Vorabend mit dem Sonnenuntergang. In nichtjüdischen Kreisen ist dieser Feiertag so gut wie unbekannt, zum einen, weil er eben nicht zu den drei „hohen“ Feiertagen gehört, vielleicht aber auch deshalb, weil er keinen eigenen Namen hat, sondern eben nach dem Kalendertag benannt ist.
Von „Feiern“ kann natürlich keine Rede sein, vielmehr wird an diesem Tag besonders viel gebetet und reflektiert mit Rückblick auf Katastrophen, die das Leben des jüdischen Volkes irgendwie tangierten. Dies kann auch mit der Befürchtung verbunden sein, dass die Feinde Israels einen solch wichtigen Trauer- und Gedenktag für mögliche Angriffe auf den Judenstaat nutzen. Wir hatten ja erst kürzlich das große Pogrom vom 7. Oktober 2023, als palästinensische Terroristen die Städte rund um den Gaza-Streifen überfielen und über 1.200 unschuldige Zivilisten sowie Soldaten ermordeten. Nicht zu vergessen die Zahl von Gastarbeitern aus den Philippinen und Thailand, die als Hauswarte für die israelischen Familien arbeiteten. Es wurden 251 Menschen als Geiseln gefangen genommen und immer noch sind 111 davon nicht wieder zuhause. Dieses Pogrom reiht sich in viele andere Pogrome, Überfälle und Einzelmorde an Passanten, Busreisenden und so vielen anderen Menschen in Israel. Nicht zu vergessen die zahlreichen Toten der der Selbstmordanschläge auf Busse in Israel die ganzen Jahre davor.
Weshalb begehen wir den 9. Aw?
Der 9. Aw fällt in den Zeitraum der Zerstörung des ersten Tempels durch den babylonischen König Nebukadnezar (586 v.u.Z.) wie auch des zweiten Tempels durch die Römer (70 u.Z.). Der Beginn der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert soll ebenfalls in diesen Zeitraum fallen (1492 – in Portugal erst fünf Jahre später), wie genau an diesem Tag der Erste Weltkrieg ausbrach. Man gedenkt an die Zerstörung der mittelalterlichen, überaus wichtigen jüdischen Gemeinden von Speyer, Worms und Mainz (abgekürzt „Schum-Städte“ genannt) im Jahre 1096, der Vertreibung der Juden aus England 1290 oder Österreich 1670.
Die Liste dieser Katastrophen wäre noch um einiges fortzusetzen – man sieht, viele negative Ereignisse der Vergangenheit werden auf diesen einen Tag gelegt.
In jüdisch-orthodoxen Kreisen wird aber nicht nur an diesem Tag getrauert. Eigentlich beginnt die Trauerperiode bereits drei Wochen zuvor, nämlich am 17. Tag des Monats Tamuz (d.h. mit dem Beginn der Zerstörung des ersten Tempels). Im Jahre 2024 war das der 23. Juli. Verlobungen oder gar Hochzeiten sind in diesen Tagen nicht möglich. Im Prinzip wird alles unterlassen, was speziell Freude machen könnte. Auch traditionelle Juden (d.h. religiöse oder “fromme“, die man nicht notwendigerweise zu den orthodoxen zählte) würden etwa keine Party veranstalten, nicht ins Freibad oder auch nicht ins Kino gehen, sich nicht einmal neue Kleidung kaufen. Auch für uns nichtorthodoxe Juden kämen solche „Vergnügungen“ nicht infrage. Das gilt vor allem für die letzten neun Tage (also denjenigen, die in den Monat Av fallen). Am 9. Av wird dann selbst das Thorah-Studium unterlassen, denn nichts ist für einen Thoraschüler selbstverständlicher Weise mit mehr Freude verbunden als die Thora selbst zu studieren (manche Gymnasiasten und/oder Studenten könnten sich daran sicherlich ein Beispiel nehmen!).
Traditionell wird kein Fleisch in diesen neun Tagen konsumiert, Alkohol nicht getrunken (außer Wein am Schabbat; der Genuss von Alkohol in mäßigen Mengen ist im Judentum grundsätzlich nicht verboten). Durch das Gebot des Verzichts auf Fleisch innerhalb der besagten letzten neun Tage sollen vielmehr auch eher symbolisch über die Mahlzeiten (und dem Genuss) eigene Grenzen gesetzt werden, denn dadurch könne man sich mehr auf das Spirituelle konzentrieren.
Am Tag des „Tisch’a be-Aw“ selbst wird übrigens durchgehend gefastet (wie auch am 17. des Tammus, d.h. zu Beginn dieser Dreiwochenperiode, wenn auch an diesem Tage lediglich „von früh bis spät“, also nicht mit dem Vorabend beginnend). Ebenso ist sexuelle Enthaltsamkeit angesagt. Das Fastengebot an diesem Tag ist übrigens nicht ganz so streng wie etwa an Jom Kippur. Kranke, Alte und Geschwächte sind eher vom Fastgebot ausgenommen wie etwa auch Schwangere. Heute sind schwangere Frauen generell vom Fasten am 9. Av befreit; dies ist natürlich eine Gewissensentscheidung und es steht allen Schwangeren frei, schließlich doch zu fasten, wenn ihr gesundheitlicher Zustand das zuließe.
Während des G´ttesdienstes wird das Buch der Klagelieder aus der Bibel gelesen. Tausende von Juden strömen übrigens an diesem Tag zur Klagemauer in Jerusalem, in Gegensatz zu einem Schabbat (an dem man mit der Trauer gegen die Ruhepflicht verstieße) .
In Israel ist dieser Tag kein gesetzlicher Feiertag, jedoch sind „freudige“ öffentliche Veranstaltungen gesetzlich untersagt, zum Beispiel Popkonzerte. Die Kinos sind konsequenterweise geschlossen, ebenso eine Großzahl der Restaurants (Fastengebot!). Allerdings gibt es an dem Vorabend zu diesem Tag auch kein öffentliches Volkstanzen (etwa analog zu Allerheiligen in katholischen Ländern).
Fällt der 9. Aw auf einen Schabbat, wird das Fasten um einen Tag verschoben. Es beginnt dann am Schabbatausgang. In solch einem Fall darf man schon am Ende des nächsten Tages, d.h. am Vorabend zum 10. Av, Fleisch essen und Wein trinken, und es darf auch wieder geheiratet werden.
Martin Arieh Rudolph. 1. Vorsitzender IKG Bamberg