Zur Bedeutung von Pessach

Bildquelle: Pessach-Haggada von Jakob Michael May Segal 1731 Frankfurt am Main, Wikimedia Commons

In Ägypten vollzog sich die Entstehung des jüdischen Volkes:

Mit 70 Personen zogen deine Väter nach Ägypten hinab und nun hat dich der Ewige, dein G’tt, zahlreich gemacht wie die Sterne des Himmels

5. Buch Moses, Kap. 10, Vers 22

In Ägypten begannen sich an der Gemeinschaft der Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs all die Eigenschaften abzuzeichnen, die man gemeinhin als Charakteristika für eine Nation ansieht. Unsere Weisen fragen in einem Midrasch:

Warum wurden die Juden würdig befunden, aus der ägyptischen Knechtschaft erlöst zu werden?

Und sie geben die Antwort:

Weil sie nicht ihre Namen, ihre Sprache und ihre Kleidung änderten …

Nicht die physische und erst recht nicht die geistige Freiheit waren erreicht, aber die Grundlagen für die Bildung einer Nation und eines Volkes waren vorhanden: das Zusammengehörigkeitsgefühl, eine gemeinsame Herkunft und Geschichte – und das Widerstreben, von einer fremden Umgebung aufgesogen, assimiliert zu werden, die Eigenart zu verlieren. Auch auf der Stufe von Sklaven bewahrten sie ihre Eigenart.

Erst Moses brachte mit dem Auszug aus Mizraim die physische Freiheit, Moses, der von G’tt mit dem Auftrag geschickt worden war, die Juden aus Ägypten in das Land von „Milch und Honig“, eben in das schon den Urvätern verheißene Land zu führen.

Damit war ein weiteres Charakteristikum für eine Nation entstanden (in der politischen Definition des Begriffes), nämlich das Streben nach einem eigenen Territorium mit einem eigenen Staatsgebilde, auf dem die Selbstverwirklichung der Nation sich vollziehen kann. An Pessach wurden unsere Vorfahren frei von Sklavendienst und Zwangsarbeit, frei von der drohenden physischen Vernichtung durch den Pharao – doch frei wozu?

Der ist nicht frei, der da will tun können, was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll.

Matthias Claudius

Welches war das Ziel der erlangten Freiheit, welches die Forderungen, die an das jüdische Volk herantraten? Als G’tt sich Moses am brennenden Dornbusch offenbarte und ihm seinen Auftrag gab, da heißt es:

Wenn Du das Volk aus Ägypten herausführst, werdet ihr G’tt an diesem Berg dienen

2. Buch Moses, Kap. 3, Vers 12

Gemeint ist die Verkündigung des Zehnworts, der Thora und deren Übernahme durch das jüdische Volk. Der Dienst an G’tt sollte also an Stelle des Dienstes für den Pharao treten. Die Unterwerfung unter einen menschlichen Herrscher wurde aufgehoben, um die höchste Freiheit zu erlangen, die sich ausdrückt in der Anerkennung G’ttes, des Schöpfers der Welt und des Herrn der Geschichte, dem alles untertan ist. Freiheit besteht nicht darin, nichts anerkennen zu wollen, sondern in der Befolgung der Gebote G’ttes, wie sie am Sinai mitgeteilt wurden.

Ich bin der Ewige, dein G’tt, der dich aus Ägypten, aus dem Sklavenhaus geführt hat

lautet der erste Satz des Zehnworts. Und er spricht das aus, was nochmals an vielen Stellen der Thora klar ausgedrückt wird, z. B. im 3. Buch Moses, Kap. 25. Vers 55:

Denn Mir sind die Kinder Israel Diener, Meine Diener sind sie, die ich aus dem Lande Ägypten geführt habe. Ich bin der Ewige, euer G’tt.

So fand der Auszug aus Ägypten seinen Sinn und seine Vollendung am Sinai mit der Verkündigung der göttlichen Gesetzgebung. Erst am Sinai, an Schawuot, erlangte das jüdische Volk zu seiner physischen Freiheit auch die geistige Freiheit. Und beide Ereignisse, Jeziat Mizraim und Matan Thora sind bis heute für jede Generation verpflichtend geblieben.

An Pessach und Schawuot erinnert der Jude sich jedes Jahr aufs neue, daß er seine und seines Volkes nationale und geistige Freiheit G’tt, dem alleinigen Herrscher Israels, verdankt.

In allen Zeitaltern ist es Pflicht eines jeden Einzelnen, sich vorzustellen, als sei er selbst aus Ägypten gezogen, wie es heißt (2. Buch Moses, Kap. 13, Vers 8):

Du sollst Deinem Sohne sagen, um dieses willen hat es der Ewige für mich getan, als ich aus Ägypten zog.

So heißt es in der Haggada. Und die Thora stellt fest:

Der Ewige unser G’tt hat mit uns einen Bund geschlossen am Choreb. Nicht mit unseren Vätern hat der Ewige diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, diesen hier, die wir heute alle leben.

5. Buch Moses, Kap. 13, Vers 8

Als Moses die Juden aus Ägypten führte, um ihnen am Sinai die göttliche Gesetzgebung zu überliefern, da wußte jeder Jude, was es bedeutete, unfrei und rechtlos zu sein. Die Thora mit ihren Sozialgesetzen stieß auf verständnisvolle, offene Ohren. Und ganz bewußt beruft sie sich an vielen Stellen im Anschluss an ein soziales Gebot auf den immer wiederkehrenden Satz:

Und erinnere Dich daran, daß du ein Sklave warst im Lande Ägypten.

Es handelt sich hier um eine Art Kindheitserfahrung des jüdischen Volkes, die sich tief in sein Bewußtsein und Unterbewußtsein eingeprägt hat. Auch in seiner späteren Geschichte, im Galut, verspürte der Jude am eigenen Leibe, was Rechtlosigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung bedeuten.

So ist es verständlich, daß er daraus seine Konsequenzen zog und stets in den Bewegungen mitarbeitete und sich hervortat, die sich der Beseitigung dieser Mißstände verschrieben hatten.

Chag Pessach Sameach ve Kasher!