Parascha Wa’etchanan

“Schma Israel”, Jüdisches Museum Franken, Wikimedia

Von Rabbiner Dr. S. Almekias-Siegl

Höre Israel!

5. BM Dwarim 3:23-7:11

Wenige Minuten, bevor die Kinder in einem Kloster einschliefen, betrat ein seltsam aussehender Mann den großen Schlafsaal. Außergewöhnlich wirkte er in der düsteren Atmosphäre des Klosters. Die erstaunten Blicke der Kinder verfolgten die Bewegungen des Fremden, der auf einen Stuhl stieg:

Schma Jisrael Haschem Elohejnu Haschem echad

durchschnitt seine Stimme die gespannte Stille im Saal, in sanftem Tonfall und in der Melodie, wie jüdische Eltern sie ihren Kindern vor dem Schlafengehen vorsingen.

Die Kinder richteten sich langsam auf. Ein Murmeln ging durch den Saal. Nicht alle Kinder kannten die Worte, doch rollten Tränen über manche Wange. Die Äbtissin verstand nicht, wieso manche Kinder aus ihren Betten sprangen, zu dem fremden Mann liefen und an seinem schwarzen Rock zerrten. »Papa! Mama!«, »Tate! Mame!«, weinten sie.

Es war in der Zeit kurz nach der Schoa. Rabbi Josef Shlomo Kahneman (1886–1969) der Leiter der Ponevezh-Jeschiwa in Litauen, besuchte viele Klöster in Europa, um jüdische Kinder aufzuspüren, die während des Krieges dort versteckt worden waren. Seine Absicht war es, diese Kinder in die jüdische Gemeinschaft zurückzuholen.

Die Klosterleitungen waren von diesem Vorhaben nicht begeistert und suchten nach Gründen, die Kinder in der eigenen Obhut zu behalten. »Fünf Minuten«, hatte die Äbtissin zu Rabbi Kahneman gesagt. »Fünf Minuten haben Sie, um hier jüdische Kinder zu finden.«

Doch die fünf Minuten reichten: Obwohl einige Jahre vergangen waren, seit die Kinder ihre Elternhäuser hatten verlassen müssen, erkannten die meisten das »Schma Jisrael«, das sie jeden Abend mit ihren Eltern gemeinsam vor dem Schlafengehen gebetet hatten. Auch die Schrecken der Schoa vermochten die Worte dieses Gebets nicht zu löschen, die in ihr Gedächtnis eingebrannt waren.

Der Abschnitt Wa’etchanan beginnt mit Mosches Rede, mit der er sich vor seinem Tod ausführlich an das Volk Israel wendet. Nachdem er den Israeliten die Zehn Gebote noch einmal eingeschärft hat, sagt er das Schma.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) meint: Dieses Gebet ist bis heute tief im jüdischen Unterbewussten verankert. Es ist wie ein im Herzen aufgerichteter Fahnenmast, der für die Überzeugung steht: Gott wird in Zukunft die Menschheit einen und versammeln. Das Schma ist der Rahmen, in dem sich das Leben eines Juden abspielt. Es wird bei seiner Geburt und bei seinem Tod gesprochen.

Egal, wo sich ein Jude auf dieser Erde befindet, er kennt den Segen des Schma und wird es seine Kinder lehren. Es soll in Fleisch und Blut übergehen und bedarf der täglichen Wiederholung. Es prägt die jüdische Bildung und Heiligung des Lebens für den Gott Israels. Selbst derjenige, der sein Judentum nicht praktiziert, bewahrt das Schma im Herzen. Und umgekehrt gilt: Dieses Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit des Ewigen bildet das pulsierende Herz des Judentums.

Schma Jisrael (Höre, Israel!) – welche tiefere Bedeutung hat dieses »Hören«? Rabbiner Hirsch erklärt: Das Hören schließt auch ein Sehen mit ein, wie es Mosche den Israeliten in Erinnerung ruft:

Du hast’s gesehen, auf dass du wissest, dass der Ewige allein Gott ist und keiner mehr

5. BM 4,35

In seinem Schöpfungshandeln hat sich der Ewige zwar sichtbar offenbart. Aus dem Vorhandensein der Schöpfung und dem Ablauf der Geschichte kommt der Mensch aber nicht zur Erkenntnis Gottes. Und deshalb heißt es auch nicht »Schau, Israel!«, sondern »Höre!«.

Der Verstand des Menschen braucht erst eine Anleitung, um Gott in dieser Welt zu erkennen. Und diese Anleitung beginnt damit, dass sich der Schöpfer den Erzvätern Israels offenbart. Später erleben die Kinder Israels, wie Gott mit ihnen Geschichte schreibt, sie aus der ägyptischen Knechtschaft befreit, durch die Wüste führt, und auf dem Berg Sinai hören sie Ihn sprechen.

Diese mit den Sinnen aufgenommene Gottesoffenbarung gibt das Volk konzentriert und auf den Punkt gebracht im »Schma Jisrael« von Generation zu Generation weiter. Damit sagen wir: Wenn der Ewige unsere Augen öffnet, damit wir Seine Taten in der Natur sehen, und Er unsere Ohren auftut, damit wir die Geschehnisse in der Geschichte verstehen, dann werden wir sehen, dass Kleines wie Großes Seine Werke sind, auf Seine Führung zurückgehen.

Einige Hundert Jahre, bevor Mosche das Schma spricht, kommt es bereits beim Wiedersehen Jakows mit seinem Sohn Josef in Ägypten zur Sprache. In dieser Szene finden wir Erklärungen für das »echad« (einer, einzig), das jede Form von Götzendienst in Israels Gedanken und Taten verhindern will. Es heißt:

Und da Josef seinen Vater sah, fiel er ihm um den Hals und weinte lange an seinem Hals

1. BM 43,29

Es fällt auf, dass diese emotionale Rührung von Jakow nicht berichtet wird. Raschi (1040–1105) erklärt, dass der Vater in dem Moment, in dem er seinen 22 Jahre totgeglaubten Sohn wieder in die Arme schließen kann, das Schma gebetet habe.

Rabbiner Hirsch interpretiert Jakows Verhalten aus dessen Lebensgeschichte. Er bemerkt gegenüber dem Pharao:

Die Zeit der Jahre meines Weilens ist 130 Jahre; wenig und böse ist die Zeit meines Lebens und langt nicht an die Zeit meiner Väter in ihrem Weilen

1. BM 47,9

Auf diese negative Lebensbilanz fällt jedoch für Jakow ein ganz anderes, neues Licht, als er erkennt, wie der Ewige die Wege Josefs geführt hat. Dieser einst verlorene Sohn steht nun als Vizekönig Ägyptens vor ihm. Jakow erkennt, dass alle schweren Erfahrungen, die er durchleiden musste, ihm von Gott geschickt wurden, um die ganze Familiengeschichte zu einem guten Ende zu führen. Es waren all die belastenden Jahre hindurch keine anderen Kräfte am Werk, als einzig und allein der Gott Awrahams, Jizchaks und Jakows. In der Umarmung Josefs bricht sich diese Gotteserkenntnis bei Jakow Bahn, und wir verstehen, warum der Vater in diesem Augenblick das Schma spricht.

Demgegenüber war der Sohn dem Vater schon voraus. Josef hatte bereits Zug um Zug das absichtsvolle Handeln Gottes in der glücklichen Führung seiner Karriere am ägyptischen Königshof erkannt. Deshalb spricht er das Schma nicht, als er seinen Vater wieder trifft.

Die Botschaft von der Einheit Gottes möchte Jakow seinen Kindern weitergeben. Dazu versammelt er vor seinem Tod seine Kinder, und sie versprechen ihrem Vater:

So wie in deinem Herzen, so gibt es auch in unserem Herzen nur den einen und einzigen Gott Awrahams, Jizchaks und Jakows

Talmud Pessachim 26

Schabbat Schalom!

(Die Drascha erschien zuerst in der Jüdischen Allgemeinen).

https://www.talmud.de/tlmd/die-torah-eine-deutsche-uebersetzung/die-torah-Waetchanan/