Paraschat Re’eh (“Siehe!”)

Jedem Menschen ist das Denken in den Kategorien von Belohnung und Strafe vertraut. Wenn ich die Erwartungen erfülle, die meine Mitmenschen oder die Gesellschaft an mich stellen, werde ich entsprechend belohnt und im umgekehrten Fall bestraft. Dieser Vorstellung begegnen wir in unserem Wochenabschnitt, in dem es heißt: 

Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch:  den Segen, wenn ihr gehorcht den Geboten des Herrn, eures Gottes, die ich euch heute gebiete; den Fluch aber, wenn ihr nicht gehorchen werdet den Geboten des Herrn, eures Gottes, und abweicht von dem Wege, den ich euch heute gebiete, dass ihr andern Göttern nachwandelt, die ihr nicht kennt (5. Buch Mose 11,26 -28).

Wenn der Segen eine Belohnung ist und die Verfluchung eine Strafe, dann wäre daraus logisch zu folgern, dass der Mensch von sich aus den Segen bevorzugt und den Mizwot der Tora entsprechend lebt und handelt.

Versuchen wir die Verse 26-28 tiefer zu ergründen, stehen wir vor Schwierigkeiten, denn in den Pirkej Avot heißt es:

Seid nicht wie Knechte, die dem Herrn dienen in der Absicht, Lohn zu empfangen, sondern seid wie Diener, die dem Herrn dienen nicht in der Absicht, Lohn zu empfangen (1,3).

Im 5. Buch Mose 11 lesen wir weiter:

Wenn dich nun der Herr, dein Gott, in das Land bringt, in das du kommen sollst, es einzunehmen, so sollst du den Segen sprechen lassen auf dem Berge Garizim und den Fluch auf dem Berge Ebal (29).

Hier geht es um eine einmalige Handlung, die beim Einzug des Volkes in das verheißene Land von Gott angeordnet wird. Wie das genau vonstattengehen soll, wird hier noch nicht enthüllt. Das hören wirst erst im 5. Buch Mose 27, 12:

Man fragt sich, warum werden sechs Stämme für das Verfluchen und sechs für das Segnen eingesetzt?  Diese Zeremonie zeigt, dass der Mensch in der Lage ist, Segen oder Fluch in der Welt zu verwirklichen. So argumentiert auch der Rabbi aus Gur, wenn er diesen Vers mit einer Interpretation von Klagelieder 3,38 auslegt:

Nicht vom Höchsten geht das Böse und das Gute aus.

Auch wenn Segen und Fluch ursprünglich vom Himmel herabkommen, liegt es immer in der Macht des Menschen, den Fluch in Segen zu wandeln. Segen und Fluch fallen nicht einfach vom Himmel herab, sondern unterliegen den Einwirkungsmöglichkeiten des Menschen. Er kann auf Segen und Fluch Einfluss nehmen, das bedeutet: Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch.

Die beiden Berge, Garizim und Ebal, befinden sich nach Aussage vom 5. Buch Mose 11,30 gegenüber der Stadt Nablus und in der Nähe der Eiche More. Mit diesen beiden Ortsangaben verbinden sich je eine Geschichte von Fluch und Segen.

Die Erzählung von der Schandtat an Dina spielt sich in Nablus ab. Diese hat zur Konsequenz, dass Dinas Brüder Levi und Simon in der Stadt ein Blutbad anrichten.

Abraham siedelte bei der Eiche More. Der Erzvater erhält die Verheißung eines Segens:

Abraham bekommt hier nicht einfach ein Blankoscheck für einen sich selbst erfüllenden Segen ausgestellt. Das Versprechen, dass er ein Vater vieler Nachkommen wird, ist abhängig von seinem Bemühen, ein Segen für andere zu werden. Für ihn geht es darum, eine Bracha nicht nur entgegenzunehmen, sondern sie mit dem Tun eines Gerechten zu erfüllen.

Er selbst soll ein Segen sein, damit durch ihn die Menschen auf Erden gesegnet werden können. Der Segen ist also als Resultat menschlichen Tuns zu verstehen.

Das Gleiche gilt für den Fluch. Er geht auf entsprechende Taten von Menschen zurück.  Erinnern wir uns noch einmal an das Blutbad, das Levi und Simon angerichtet haben, um die geschändete Ehre Dinas und ihrer Familie wieder herzustellen. Es brachte den beiden Brüdern letztlich den Fluch des Vatersein:

Die Brüder Simeon und Levi, ihre Schwerter sind mörderische Waffen.  Meine Seele komme nicht in ihren Rat, und meine Ehre sei nicht in ihrer Versammlung; denn in ihrem Zorn haben sie Männer gemordet, und in ihrem Mutwillen haben sie Stiere gelähmt. Verflucht sei ihr Zorn, dass er so heftig ist, und ihr Grimm, dass er so grausam ist. Ich will sie versprengen in Jakob und zerstreuen in Israel (1. Buch Mose 49, 5 – 7).

Die vom Ewigen auf den Bergen Garizim und Ebal gebotene Aufstellung der Stämme Israels gleicht einem Psychodrama. Den Kindern Israel soll sich tief einprägen, dass Fluch und Segen in ihren Händen liegen. Der Mensch ist in der Welt verantwortlich, indem er die Weichen für den Fluch oder den Segen stellt.

HaRambam erkennt in diesem Vers “Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch” das Prinzip der menschlichen Willensfreiheit. Jeder von uns hat die Möglichkeit, Gutes oder Böses zu tun. Diese Aussage steht einem Denken entgegen, dass über den Menschen im Himmel ein unumstößliches Urteil beschlossen sieht.

Das Gegenteil ist der Fall: Der Mensch ist jederzeit frei, sich für den Segen oder den Fluch zu entscheiden. Er wird von Gott in jedem Augenblick zur verantwortlichen Tat aufgerufen – so ist es zu verstehen, wenn Gott sagt “Ich lege dir heute vor …” Mit dieser Bestimmung des Menschen wird das Fundament der biblischen Ethik gelegt.

Mit dem göttlichen Geschenk der freien Wahl, Segen oder Fluch zu wählen, ruft der Schöpfer letztendlich zur Wahl zwischen Leben und Tod auf.  Damit ist dem Menschen eine große Verantwortung aufgegeben.

Das Ziel, das Gott zusammen mit dem Menschen in seiner Schöpfung verfolgen möchte, ist in der Tora klar und eindeutig formuliert:

Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen (5. Buch Mose 30,19).

Kein Zweifel, Gott erwartet, dass wir durch unser Leben ein Segen werden und dadurch unserem Mitmenschen und uns selbst zum Leben dienen – und nur dem Leben!

Rabbiner Dr. S. Almekias-Siegl