Pessach, Omerzählen, Schawuot

Das Pessachfest beginnt am Abend des 14. Nissan und dauert sieben Tage. Außerhalb Israels feiert man noch einen zweiten Sederabend und einen achten Tag Pessach. In der am Sederabend vorgetragenen Haggada wird an einer Stelle das Wesentlichste dieses Festes zusammengefaßt. Sie sei daher hier ausführlich zitiert. (Übersetzung Dr. Philipp Schlesinger.)

Rabban Gamliel Iehrte: Wer folgende drei Dinge an Pessach nicht bespricht, der hat seine Pflichten nicht erfüllt. Und diese sind es – das Pessachopfer, die Mazza und das Bitterkraut.

Das Pessachopfer, welches unsere Vorfahren gegessen haben, als noch der Tempel stand — worauf deutet es hin? Es deutet darauf hin, daß der Heilige, gepriesen sei Er, in Ägypten über die Häuser unserer Väter hinwegschritt, wie es heißt (2. B. M., 12, 27):

„Und ihr sollt sprechen: es ist das Überschreitungsopfer, dem Ewigen zu Ehren, der hinwegschritt (pasach) über die Häuser der Kinder Israel in Ägypten, als er die Ägypter schlug und unsere Häuser verschonte. Und das Volk neigte und bückte sich."

“Diese Mazza, die wir essen, worauf deutet sie hin? Sie deutet darauf hin, daß der Teig unserer Väter nicht Zeit hatte, um zu säuern, da schon der König aller Könige, der Heilige, gepriesen sei Er, sich ihnen offenbarte und sie erlöste, wie es heißt (2.B.M. 12, 39):

'Sie machten von dem Teige, den sie aus Ägypten mitgenommen, ungesäuerte Brote, denn er war noch nicht gesäuert, weil sie aus Ägypten hinausgetrieben wurden und sie nicht verweilen konnten; nicht einmal Wegzehrung konnten sie sich bereiten.'"

“Dieses Bitterkraut, das wir essen – worauf deutet es hin? Es deutet darauf hin, daß die Ägypter unseren Vätern das Leben verbitterten, wie es heißt (2. B. M. 1, 14):

'Sie verbitterten ihnen das Leben durch harte Arbeit mit Lehm und mit Ziegeln und allerlei Arbeit auf dem Feld, außer den sonstigen Arbeiten, die sie ihnen mit Strenge aufbürdeten.'"

Auf die Bedeutung von Pessach wird weiter unten noch eingegangen. Das Pessachfest heißt auch Chag Ha´Aviv = Frühlingsfest, weil zu dieser Zeit in Israel die Gerste reif wird und deren Ernte beginnt. Als der Tempel noch stand, brachte man am zweiten Tag Pessach von dem ersten Ernteertrag das Omeropfer dar (siehe Omerzeit). Pessach, wie Schawuot und Sukkot, war ein Wallfahrtsfest, zu dem man verpflichtet war, nach Jerusalem zu ziehen und seine Opfer darzubringen.

Zur Bedeutung von Pessach

In Ägypten vollzog sich die Entstehung des jüdischen Volkes. ,,Mit 70 Personen zogen deine Väter nach Ägypten hinab und nun hat dich der Ewige, dein G’tt, zahlreich gemacht wie die Sterne des Himmels” (5. Buch Moses, Kap. 10, Vers 22). In Ägypten begannen sich an der Gemeinschaft der Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs all die Eigenschaften abzuzeichnen, die man gemeinhin als Charakteristik für eine Nation ansieht. Unsere Weisen fragen in einem Midrasch: „Warum wurden die Juden würdig befunden, aus der ägyptischen Knechtschaft erlöst zu werden?” Und sie geben die Antwort: Weil sie nicht ihre Namen, ihre Sprache und ihre Kleidung änderten … Nicht die physische und erst recht nicht die geistige Freiheit waren erreicht, aber die Grundlagen für die Bildung einer Nation und eines Volkes waren vorhanden: das Zusammengehörigkeitsgefühl, eine gemeinsame Herkunft und Geschichte, und das Widerstreben, von einer fremden Umgebung aufgesogen, assimiliert zu werden, die Eigenart zu verlieren. Auch auf der Stufe von Sklaven bewahrten sie ihre Eigenart.

Erst Moses brachte mit dem Auszug aus Mizraim die physische Freiheit, Moses, der von G’tt mit dem Auftrag geschickt worden war, die Juden aus Ägypten in das „Land von Milch und Honig” eben in das schon den Urvätern verheißene Land zu führen. Damit war ein weiteres Charakteristikum für eine Nation entstanden (in politischen Definition des Begriffes), nämlich das Streben nach einem eigenen Territorium mit einem eigenen Staatsgebilde, auf dem die Selbstverwirklichung der Nation sich vollziehen kann. An Pessach wurden unsere Vorfahren frei von Sklavendienst und Zwangsarbeit, frei von der drohenden physischen Vernichtung durch den Pharao, doch frei wozu? Der ist nicht frei, der da will tun können, was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll.” (Matthias Claudius)

Welches war das Ziel der erlangten Freiheit, welches die Forderungen, die an das jüdische Volk herantraten?

Als G’tt sich Moses am brennenden Dornbusch offenbarte und ihm seinen Auftrag gab, da heißt es: “Wenn Du das Volk aus Ägypten herausführst, werdet ihr G’tt an diesem Berg dienen” (2. Buch Moses, Kap. 3, Vers 12). Gemeint ist die Verkündigung des Zehnworts, der Thora und deren Übernahme durch das jüdische Volk. Der Dienst an G’tt sollte also an Stelle des Dienstes für den Pharao treten. Die Unterwerfung unter einen menschlichen Herrscher wurde aufgehoben, um die höchste Freiheit zu erlangen, die sich ausdrückt in der Anerkennung G’ttes, des Schöpfers der Welt und des Herrn der Geschichte, dem alles untertan ist.

Freiheit besteht nicht darin, nichts anerkennen zu wollen, sondern in der Befolgung der Gebote G’ttes, wie sie am Sinai mitgeteilt wurden. „Ich bin der Ewige, dein G’tt, der dich aus Ägypten, aus dem Sklavenhaus geführt hat”, lautet der erste Satz des Zehnworts. Und er spricht das aus, was nochmals an vielen Stellen der Thora klar ausgedrückt wird, z. B. im 3. Buch Moses, Kap. 25, Vers 55:

„Denn Mir sind die Kinder Israel Diener, Meine Diener sind sie, die Ich aus dem Lande Ägypten geführt habe. Ich bin der Ewige, euer G'tt." 

So fand der Auszug aus Ägypten seinen Sinn und seine Vollendung am Sinai mit der Verkündung der g´ttlichen Gesetzgebung. Erst am Sinai, an Schawuot, erlangte das jüdische Volk zu seiner physischen Freiheit auch die geistige Freiheit. Und beide Ereignisse, Jeziat Mizraim und Matan Thora sind bis heute für jede Generation verpflichtend geblieben. An Pessach und Schawuot erinnert der Jude sich jedes Jahr aufs Neue, daß er seine und seines Volkes nationale und geistige Freiheit G’tt, dem alleinige Herrscher Israels, verdankt.

„In allen Zeitaltern ist es Pflicht eines jeden Einzelnen, sich vorzustellen, als sei er selbst aus Ägypten gezogen, wie es heißt (2. Buch Moses, Kap. 13, Vers 8): „Du sollst Deinem Sohne sagen, um dieses willen hat es der Ewige für mich getan, als ich aus Ägypten zog.““ 

So heißt es in der Haggada. Und die Thora stellt fest: „Der Ewige unser G’tt hat mit uns einen Bund geschlossen am Choreb. Nicht mit unseren Vätern hat der Ewige diesen Bund geschlossen, sondern mit uns diesen hier, die wir heute alle leben.” (5. B. M., Kap. 13. Vers 8).

Bevor nun im Kapitel über Schawuot auf den Sinn und die Absicht der göttlichen Gesetzgebung eingegangen wird, soll eine wichtige Konsequenz erwähnt sein, die der Auszug aus Ägypten für die Befolgung der Gebote, der Mizwot hatte. Als Moses die Juden aus Ägypten führte, um ihnen am Sinai die göttliche Gesetzgebung zu überliefern, da wußte jeder Jude, was es bedeutete, unfrei und rechtlos zu s ein. Die Thora mit ihren Sozialgesetzen stieß auf verständnisvolle, offene Ohren. Und ganz bewußt beruft sie sich an vielen Stellen im Anschluß an ein soziales Gebot auf den immer wiederkehrenden Satz:

„Und erinnere Dich daran, daß du ein Sklave warst im Lande Ägypten." 

Es handelt sich hier um eine Art Kindheitserfahrung des jüdischen Volkes, die sich tief in sein Bewußtsein und Unterbewußtsein eingeprägt hat. Auch in seiner späteren Geschichte, im Galut, verspürte der Jude am eigenen Leibe, was Rechtlosigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung bedeuteten. So ist es verständlich, daß er daraus seine Konsequenzen zog und stets in den Bewegungen mitarbeitete und sich hervortat, die sich der Beseitigung dieser Mißstände verschrieben hatten.

Schawuot

Das Fest wird am 6. (außerhalb Israels auch am 7.) Siwan (in diesem Jahr 12. / 13. Juni 2024) gefeiert und hat seinen Namen von der Vorschrift, daß am Wochenfest vom zweiten Tag Pessach an 7 Wochen gezählt werden müssen und daß das Fest am 50. Tag nach Beginn des Zählens begangen wird. Durch das Zählen wird die Verbundenheit von Pessach und Schawuot betont. (Siehe Bedeutung von Pessach und Schawuot). Im Talmud wird es auch „Azeret” genannt und bezeichnet den Abschluß der Pessach-Schawuot-Periode. In der Thora finden wir für Schawuot auch die Namen „Chag Hakazir” (Fest der Ernte) und „Chag Habikkurim” (Fest der Erstlingsfrüchte). Schawuot ist, ebenso wie Pessach und Sukkot, ein Wallfahrtsfest und jedes dieser drei Feste ist ein Erntefest. Zu Pessach wird die erste „Frucht”, die Gerste dargebracht, zu Schawuot, einer Jahreszeit also, in der in Israel mit der Weizenernte begonnen wird, die ersten „Früchte” dieser Ernte. Von Schawuot an konnten auch die einzelnen Hausväter die Erstlinge ihres Ertrages in den Tempel bringen. Man pflegte sich zu Gruppen zusammenzuschließen, die unter Gesang nach Jerusalem pilgerten. Sukkot ist schließlich das abschließende Erntefest.

Besonders wesentlich für Schawuot ist aber, daß nach der Überlieferung am 6. Siwan die Thora von G’tt dem jüdischen Volk übergeben wurde. Deswegen heißt es auch “Seman Matan Torateinu”. Auf die Bedeutung dieser Offenbarung wird in der Betrachtung weiter unten eingegangen.

Zur Bedeutung von Schawuot

Nation und Religion sind im Judentum unzertrennbar miteinander verbunden. Wurden die Juden an Pessach durch den Auszug aus Ägypten zu einer Nation, so wurden sie an Schawuot durch die Offenbarung am Sinai zu einer Religionsgemeinschaft. Wenden wir den Begriff Religion auf das Judentum an, so lassen wir uns zu leicht von Vorstellungen über andere Religionen, z. B. das Christentum, leiten. Moses Mendelsohn hat hier eine Trennlinie gezogen, indem er von der Offenbarung am Sinai als einer Offenbarung von g´ttlichen Gesetzen (Mizwot) spricht und klar feststellt, daß es sich nicht um eine Offenbarung von Glaubenswahrheiten und Dogmen handelt, wie sie das Christentum kennt. Judentum ist in erster Linie keine Glaubensreligion, sondern eine „Lebenshaltung”. Natürlich ist der Glaube an G’tt Grundlage für die Annahme der Thora und ihrer Gebote, doch deren tagtägliche Verwirklichung steht im Mittelpunkt jüdischen Lebens und nicht die Wiederholung von mündlichen Glaubensbekenntnissen. Der jüdische Alltag ist voller Vorschriften, die das Verhalten des Menschen auf jedem Gebiet bis in die kleinsten Einzelheiten regeln. Bevor nun näher auf die Mizwot, ihre Bedeutung und Gründe eingegangen werden soll, muß der richtige Zugang zu ihnen gefunden werden.

Maimonides, der größte jüdische Philosoph des Mittelalters, hat sich mit diesem Thema in seinem Werk “Führer der Verirrten” ausführlich beschäftigt. Weil seine Worte bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren haben, sei er hier zitiert (“Führer der Verirrten”, Buch 3, Kap. 26): Ebenso wie die Theologen in der Frage , geteilter Meinung sind, ob die Handlungen G’ttes das Ergebnis seiner Weisheit oder nur seines Willens ohne jegliche Absicht sind, so sind sie es, was den Zweck der Gebote anbetrifft, die G’tt uns gab. Einige denken, daB die Gebote überhaupt keinen Zweck haben und nur durch den Willen Gottes angeordnet wurden. Andere sind der Meinung, dass Gebote und Verbote durch seine Weisheit vorgeschrieben wurden und ein bestimmtes Ziel verfolgen; daher gibt es einen Grund für jede Vorschrift; sie werden uns eingeschärft, weil sie nützlich sind. Wir alle, das gewöhnliche Volk wie die Gelehrten glauben, daß es einen Grund für jedes Gebot gibt, obwohl Gebote vorkommen, deren Grund uns unbekannt ist und die Wege g’ttlicher Weisheit uns unverständlich. Diese Ansicht wird klar in der Schrift ausgedrückt: gerechte Satzungen und Vorschriften (5. Buch Moses Kap.4, Vers 8) und die Aussprüche des Ewigen sind wahr und alle zusammen gerecht (Psalmen, Kap. 19, Vers 10).

…Folglich gibt es einen Grund für jedes Gebot, jede positive oder negative Vorschrift dient einem nützlichen Zweck. In manchen Fällen  ist der Sinn augenscheinlich, z. B. das Verbot zu morden und zu stehlen; in anderen nicht so sehr, wie z. B. das Verbot, eine Baumfrucht in den ersten drei Jahren zu genießen (3. B. M. Kap. 19, Vers 23). Die Gebote, deren Absicht im Allgemeinen klar ist, werden Mischpatim (Rechtsvorschriften) genannt, diejenigen, bei denen dies nicht der Fall ist, Chukkim (Satzungen). Es heißt:

„Es ist nicht ein leeres Wort für euch" (5. Buch Moses, Kap. 32, Vers 47). 

Das will sagen, die Anordnung dieser Gebote ist nicht eine vergebliche Sache, ohne sinnvolle Absicht. Und wenn dies bei irgendeinem Gebot der Fall zu sein scheint, dann ist dies auf dein fehlendes Verständnis zurückzuführen.” Soweit Maimonides. Da es also Gebote gibt, die uns nur schwer oder gar nicht verständlich sind, kann deren Befolgung nicht von ihrem Verständnis abhängig gemacht werden, denn der menschliche Geist ist unvollkommen. Für die Ausführung der Mizwot ist der Ausspruch maßgeblich, den das jüdische Volk schon am Sinai tat: „Na’ase wenischma” – „Wir wollen es tun und hören.” Das bedeutet: Die Ausführung der Mizwot kommt an erster Stelle, dann folgt das Suchen nach deren Absicht, das Nachdenken und Verstehen. So findet jede Generation in der Thora und den Mizwot die Antwort auf ihre spezifisch zeitgebundenen Fragen und es gilt das Wort unserer Weisen: Forsche in ihr und forsche in ihr, denn alles ist in ihr enthalten! (Sprüche der Väter, Kap. 5, Satz 25). Viele unserer Weisen haben zu jeder Zeit den Mizwot sehr verschiedene und sich ändernde Bedeutungen beigelegt, die praktische Verwirklichung der Mizwa blieb stets dieselbe. Kaum von einer Mizwa kann man behaupten, daß ihr geistiger Hintergrund voll ausgeleuchtet sei. Ein Beispiel aus der Naturwissenschaft möge diese Vielfalt der Erklärungen für eine Mizwa verdeutlichen. Die Chemie kennt die Erscheinung, daß die Struktur eines Moleküls nicht durch eine Formel allein, sondern erst durch mehrere Formeln zu beschreiben ist. Alle Formeln zusammen erst ergeben das wahre Bild des Moleküls. Genauso verhält es sich mit den Mizwot und ihrer Bedeutung. Jeder Grund für ein Gebot hat einen gewissen Wahrheitscharakter, aber erst alle Bedeutungen zusammen erfassen die Mizwa im ganzen.

Alle Mizwot kann man in zwei große Klassen einteilen, die Mizwot, welche die zwischen-menschlichen Beziehungen regeln (bein adam lechawero) und diejenigen, die das Verhältnis zwischen Mensch und G’tt bestimmen (bein adam lamakom). Das Verhalten der Menschen zueinander wird bestimmt durch das Prinzip: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Die Ideale der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens werden angestrebt. Viele Programmpunkte des modernen Sozialismus finden wir bereits in der Thora verwirklicht. So sorgen die Gebote von Schmitta und Jobel für eine gerechte Eigentumsverteilung (3. Buch Moses, Kap. 25) und sehr viele Gebote sind der Unterstützung des sozial Schwächeren gewidmet, wie der Schuldenerlaß (5. Buch Moses, Kap. 25), das Gebot von Pea (3. Buch Moses, Kap. 19) und Ma’aser Oni (5. BuchMoses, Kap. 26). Es würde zu weit führen, hier auf alle diese Gebote einzugehen. Die rechtliche Gleichstellung aller Menschen, die Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaftsordnung, wird an vielen Stellen der Thora gefordert (2. Buch Moses, Kap. 19, Satz 15). All diese Mizwot sind einleuchtend, verständlich und Grundlage und Vorbild jeder zivilisierten und humanen Gesellschaft.

Dazu bedarf es aber auch einer Vervollkommnung des Einzelnen, die sich dann in der oben erwähnten Weise in seiner Beziehung zum Mitmenschen ausdrücken soll. Der Mensch muß eine Verantwortung gegenüber dem Gesetz fühlen, eine Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber, gegenüber G’tt. Er muß seine eigenen Grenzen, seine Unvollkommenheit erkennen und sich vor Hochmut und Überheblichkeit bewahren. Er muß lernen, seine Triebe zu beherrschen. All dies zu erreichen, das ist der Zweck der Gebote zwischen Mensch und G’tt. So legt der Jude jedes Jahr am Jom Kippur vor G’tt Rechenschaft über sein Tun ab und so dienen z. B. die Speisegesetze (Kaschrut) dazu, den tierischen Trieb, sich zu ernähren, umzuwandeln in den menschlichen Willen und die Vernunft dazu. In der direkten Beziehung zu G’tt schöpft der Einzelne auch die Kraft, die schwierigen Situationen des menschlichen Lebens zu bestehen und zu meistern.

Durch gute Vorsätze und Lippenbekenntnisse ist hier aber nichts getan. Der jüdische Weg ist ein Weg des Handelns, der praktischen Verwirklichung aller guten Vorsätze und Pläne. Durch die tägliche Erfüllung der Mizwot kommt der Mensch zu einer Vollkommenheit seiner selbst und seiner Beziehungen zu den anderen. Um diese Vollkommenheit zu erreichen und um ein Vorbild zu sein, bekam das jüdische Volk das erzieherische Mittel der Mizwot.

Der Mensch wird zum konkreten Handeln angehalten, kein noch so schön lautendes Programm hat Sinn, gibt es nicht den Weg, in die Tat umzusetzen. Das Programm des jüdischen Volkes, wie es G’tt vor der Ubergabe der Thora am Sinai formulierte, lautet:

„Und ihr sollt mir sein ein Königtum von Priestern und ein heiliges Volk." (2. Mose, Kap. 19, Vers 6).

Der Weg dazu ist die Befolgung und Verwirklichung der Mizwot. An einem letzten Beispiel sei die erzieherische Wirkung der Mizwot erlautert. Wie soll der Vater das Gebot befolgen, seinem Kinde die Bedeutung des Auszuges aus Ägypten nahezubringen, der ja die Grundlage für das Werden der jüdischen Nation war? Nicht in abstrakten Erläuterungen, sondern in der Stunde, in der vor dem Kinde Mazza und Maror liegen, d. h. in der Sedernacht ist der Zeitpunkt gekommen. Mazza, das Brot der Armut, das unsere Vorfahren in der Eile des Auszuges essen muBten und Maror, das Bitterkraut, das an die Leiden in Ägypten erinnert, sie führen sowohl dem Kinde wie auch dem Erwachsenen die damalige Situation wieder vor Augen, so daß jeder mit Recht von sich sagen kann, die Forderung unserer Weisen erfüllt zu haben: „In jeder Generation sehe sich der Mensch so, als sei er selbst aus Ägypten gezogen.” Und so wird beim Anblick von Mazza und Maror, bei der Erfüllung dieser Mizwot, jedesmal erneut die Dankbarkeit gegenüber G’tt hervorgerufen, der uns damals die Freiheit gab.

(IKG Bamberg/Rabbiner Dr. Almekias-Siegl)